Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf den Theologen Dietrich Rössler:Religion ist mehr als Theologie und Kirche

Liberalisierung muss nicht zu Verflachung führen, sie kann auch einfach Humanisierung bedeuten: zum Tod des evangelischen Theologen und Nervenarztes Dietrich Rössler.

Von Johann Hinrich Claussen

Wie in anderen Kulturbereichen auch sollte man in der Wissenschaft Prominenz und Bedeutung voneinander unterscheiden. Dietrich Rössler war keine berühmte öffentliche Figur, dafür aber ein evangelischer Theologe, der seine Disziplin und seine Kirche maßgeblich beeinflusst hat. Gemeinsam mit dem Münchner Systematischen Theologen Trutz Rendtorff und anderen Weggefährten hat er von Tübingen aus die neuere liberale Theologie in Deutschland begründet. Dabei hat er bewiesen, dass Liberalisierung nicht zu Verflachung führen muss, sondern eine Erweiterung, Vertiefung und Humanisierung der Theologie bewirken kann.

Der 1927 in Kiel geborene Rössler war eine seltene Doppelbegabung: Gleich nach dem Krieg studierte er Medizin und Evangelische Theologie, promovierte auch in beiden Fächern. Nach seiner Habilitation in Praktischer Theologie und einigen Jahren im Pfarramt wurde er 1965 nach Tübingen berufen, wo er sein gesamtes Berufsleben verbringen sollte. Außergewöhnlich war, dass er Mitglied nicht nur der theologischen, sondern auch der medizinischen Fakultät war - zu einer Zeit, als Interdisziplinarität noch kein Modewort war.

Die Medizinethik fand in ihm dank seiner theologisch-medizinischen Zweisprachigkeit einen prägenden Wegbereiter

Entscheidend für Rösslers Verständnis der Praktischen Theologie waren die Einsichten der protestantischen Aufklärung, dass die christliche Religion nicht auf Theologie reduziert werden darf und nicht auf Kirche. Die "gelebte Religion" ist auch außerhalb der Kirche in Kultur und Gesellschaft beheimatet. Das Fach der Praktischen Theologie, dass die zukünftigen Pfarrerinnen und Pfarrer auf ihren Dienst vorbereiten soll, muss also vielfältige Wahrnehmungen verbinden und intellektuell auf unterschiedliche Handlungsfelder einstimmen.

Einen besonderen Schwerpunkt des Theologen, der in Personalunion Nervenarzt war, bildete natürlich die Seelsorge. Ein anderer war die Predigtlehre, für die sich Rössler unter anderem als langjähriger Herausgeber der "Predigtstudien" einsetzte. Die zu seiner Zeit entstehende Medizinethik fand in ihm dank seiner theologisch-medizinischen Zweisprachigkeit einen prägenden Wegbereiter.

Die öffentlichen Bühnen kirchlicher und theologischer Eitelkeiten mochten andere bespielen, Rössler legte Grundlagen, sammelte eine eindrucksvolle Schülerschar um sich und prägte nicht nur eine Generation von Pfarrerinnen und Pfarrern. Außerdem hatte er, was in der Theologie nicht eben verbreitet ist: Charme und Humor. Als der Verfasser dieser Zeilen ihn einmal fragte, wie es ihm denn als Nervenarzt in der Gelehrtenrepublik Tübingen ergangen sei, schmunzelte er und erklärte: "Geschadet hat mir mein psychiatrisches Wissen an dieser Universität jedenfalls nicht." Am vergangenen Donnerstag ist Dietrich Rössler im Alter von 94 Jahren verstorben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5492256
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/crab
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.