Süddeutsche Zeitung

Dieter Dorn: Premiere von "Alkestis":Die Null in uns fühlt mit

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Es geht um einen fragwürdigen Deal um den Tod: Dieter Dorns "Alkestis" feiert am Münchner Residenztheater Premiere - und der Zuschauer hegt Mitgefühl mit einem Versager.

J. Schloemann

Was für ein Versager. Für Admetos, den gottgefälligen König von Pherai im Norden Griechenlands, hat sich das Schicksal auf einen Deal eingelassen. Sein Schutzgott Apollon hat ausgehandelt, dass Admet dereinst dem Tod entkommen kann, wenn jemand anders für ihn in den Hades geht. Da sonst keiner in der Verwandtschaft darauf Lust hat, hat sich schließlich seine eigene Ehefrau Alkestis zu dem grausamen Opfer bereit erklärt. Was sich Verliebte eben so alles versprechen: Ich würde sogar für dich sterben ...

Also erst einmal: Eheleben. Verdrängung des Endes, Zeugung von zwei Kindern, immer Gäste im Haus. Doch als der Tod dann eines Tages wirklich kommt, seine Frau zu holen, da erst merkt Admet, dass jene Verabredung, die im Märchen vielleicht ein Glück war, im Leben doch ein Verhängnis sein könnte. Und er fängt plötzlich an zu jammern. Und wie. Was denn nun aus ihm werden solle, und aus den Kindern, bitte, bitte, verlass mich nicht, verlass mich nicht! Während seine Frau seinetwegen stirbt, liefert Admet mit seinem Selbstmitleid das Paradebeispiel dafür, wie eng Liebe und Eigennutz beieinander liegen können.

Widerlich fand das auch Christoph Martin Wieland. "Nein, der Mann, der dies tun konnte, den können wir unmöglich lieben, unmöglich an seinem Schmerz Anteil nehmen", schrieb Wieland über Euripides' Tragödie "Alkestis", in einer Kritik an dem griechischen Dramatiker, die Wieland zu seiner eigenen Singspiel-Bearbeitung "Alceste" von 1773 verfasste. Darauf antwortete Goethe mit seiner Satire "Götter, Helden und Wieland" (1774), worin Goethe sich lustig machte über tugendgemäß-brave Bearbeitungen von großen antiken Stoffen: man dürfe Euripides nicht auf die empfindsamen Seelen der eigenen Zeit zurechtbiegen. Wieland aber war der Ansicht, "2200 Jahre später" könne dem Publikum so ein verachtenswerter Admet nicht mehr vorgesetzt werden.

Jetzt sind es schon 2447 Jahre, seitdem die "Alkestis", das früheste der erhaltenen achtzehn Stücke des Euripides, in Athen uraufgeführt wurde. Und doch hat sich Dieter Dorn in seiner Inszenierung, die am Samstag am Münchner Residenztheater Premiere hatte, nach einer langen Geschichte von Alkestis-Bearbeitungen entschlossen, diesen fragwürdigen Admet möglichst vorurteilsfrei auf die Bühne zu stellen. Das ist keine leichte Aufgabe für dessen Darsteller Michael von Au. Am Anfang wirkt er in seinem royalblauen Kurzmantel noch wie der Geschäftsführer einer Werbeagentur, Typus Frank Schätzing, dem gerade ein großer Auftrag durch die Lappen gegangen ist und der nicht auch noch Beziehungsprobleme gebrauchen kann.

Debatte um Generationengerechtigkeit

Aber sein Spiel gewinnt dann mit der Figur an Statur. Zu einem Höhepunkt des Abends gerät Admets Rededuell mit seinem alten Vater Pheres. Der will eigentlich nur Totenschmuck bringen, um der aufgebahrten Schwiegertochter die letzte Ehre zu erweisen. Doch sein Sohn lässt allen Anstand fahren, er verflucht den Vater und beschuldigt ihn, weil er sich nicht, trotz fortgeschrittenen Alters, anstelle von Alkestis für ihn, seinen Sohn, hingegeben habe. Daraus entspringt vor dem blutroten, kubistisch-klaustrophobischen Kleinpalast in der Mitte der Bühne einer jener wilden Pro-und-Contra-Kämpfe, wie sie der Sophistenschüler Euripides den Debatten der erstarkten attischen Demokratie abgelauscht hat. Thema heute: Generationengerechtigkeit.

Krampfhaft halte die Aufbaugeneration am Leben fest und wolle nichts abgeben, heißt es auf der einen Seite: Zur Rache wolle er, der Jüngere, sie dann eben nicht mehr versorgen. Keine Rentengarantie! Vater Pheres hingegen beharrt auf der Lebensleistung seiner Alterskohorten: Jeder lebe sein eigenes Leben, und das sei ohnehin schon von kurzer Süße - wie könne denn da der Jüngere von einem Best-Ager ein Opfer fordern, das er selbst zu leisten zu feige gewesen sei? Der Egoismus-Vorwurf wird in beide Richtungen durch die Arena geschleudert, und wie es so ist bei Generationendebatten: Auf beiden Seiten verfängt er.

Dem Admet des Michael von Au ist es in dieser großen Szene nicht gerade vorgegeben, Sympathiepunkte zu sammeln, zumal sein Gegner der große alte Rudolf Wessely ist, welcher den Pheres grandios zwischen Würde und Eigensinn des Alters moduliert. Gleichwohl gelingt es hier, Admets atemberaubende Ungerechtigkeit, seine kalte Brutalität dem Vater gegenüber aus seiner Trauer wenigstens verständlich zu machen. Die Wirkung ist gewaltig: Admet ist eigentlich eine Null. Aber die moralische Null in uns, sie fühlt doch mit. Das muss sich der Zuschauer eingestehen. Man glaubt es kaum, zweihundertdreißig Jahre nach Wieland können wir diesen Admet tatsächlich wenn nicht lieben, so doch "an seinem Schmerz Anteil nehmen".

Man wünschte sich, eine ähnliche Intensität des Mitgefühls hätte sich zuvor auch in der großen Sterbeszene der Alkestis entfaltet. Es ist ja dieser rührende Opfertod für den Ehemann, dieser Abschied einer weniger mythischen als bürgerlichen Liebes-Heroine, der die Wirkungsgeschichte der "Alkestis" über die Jahrtausende dominiert hat; dass Alkestis in einem raffiniert burlesken Anhang des Stücks von Herakles wieder aus dem Totenreich zurückgeholt wird (solch ein Happy-End war nötig, weil die Tragödie bei der Uraufführung an der Stelle des Satyrspiel-Rausschmeißers gegeben wurde) - dieser tückisch-heitere Schluss ist dagegen in der Rezeption der untypischen Tragödie immer wieder verblasst.

Kalt wie die Hand der Wiederbelebten

Bei Dieter Dorn indes ist die Totenblässe eher in die erste Hälfte des Stücks gefahren. Der berühmte Abschied, der den Großteil dieser ersten Hälfte einnimmt, lässt so kalt wie die Hand der Wiederbelebten, die der Ehemann am Schluss doch wieder, ungläubig, ergreifen wird. Woran liegt das? Nicht etwa daran, dass die Regie uns sagen wollte, der Tod als höchste Stufe der weiblichen Pflichterfüllung sei so von gestern wie das Ehegattensplitting. Nein, solcher Versuchung des zeitgenössischen Kommentars widersteht der Regisseur wieder standhaft, so wie sich auch seine Figuren insgesamt in den bewährten edelmatten Farben in mythischer Zeitlosigkeit bewegen, auf der unveränderlichen, mit einem Gang den Zuschauerraum durchschneidenden Bühne (Jürgen Rose), gelegentlich umtönt von den ululierenden Ethno-Klängen einer Solo-Sängerin, welche die Unerbittlichkeit des Schicksals enervierend genug spürbar macht.

Nein, dass uns Alkestis' Tod hier nicht recht bewegen will, hat andere Gründe. Einer ist, dass die großartige Sibylle Canonica im Sterben leider den Ton nicht trifft. Direkt zuvor hat sie eine grobschlächtige Magd spielen und vor dem Palast gleichsam von ihrem eigenen Dahinschwinden berichten müssen. Nun, als scheidende Herrschergattin, ist sie das Keifen und Meckern der vorhergehenden Rolle irgendwie nicht losgeworden. Das ist fatal, oder besser gesagt: nicht fatal genug. Die ganze erste Hälfte der Inszenierung hat insgesamt etwas Herausgepresstes, Hektisches, Aufgesetztes; das kann sich geben, und es gibt sich auch - aber wenn kein Mitleid mit Alkestis aufkommen will, dann droht die ganze Höhe und Tiefe des Stücks planiert zu werden.

Das Existenzielle des Stücks bleibt matt

Der zweite Grund solcher Begradigung ist die Übersetzung der "Alkestis" von Raoul Schrott, beziehungsweise Bearbeitung "nach Euripides". Schrott hat viel dazugedichtet, an manchen Stellen mehr poetisiert als das Original, aber über weite Strecken umgekehrt plattes Nachrichtendeutsch aus Euripides gemacht und allerlei Stoff aus den Kommentaren eingeflochten. Diese erweiternde Überdeutlichkeit führt dazu, dass der Abend in nur zwei Stunden ohne Pause dennoch zu breit wirkt - die "Alkestis" ist auch im Original schon vergleichsweise handlungs- und bewegungsarm. Belebung bringt der Chor der drei alten Männer, jedenfalls wenn sie einzeln sprechen; wenn sie unisono zu Apoll beten, hören sie sich an wie eine Schrumpfgemeinde, die das Vaterunser herunterleiert. So stark und überraschend dieser Inszenierung also die Profilierung des Versagers Admet gelingt, beinahe gegen den Willen des Betrachters - so matt bleibt vielfach das Existenzielle des Stücks.

Wer also muss es wieder mal richten? Herakles natürlich. In einem zu Recht umjubelten Auftritt von Felix Rech wandelt sich der Heros vom zur Unzeit im Trauerhaus auftauchenden Gastfreund, der frisst, säuft und grölt, zu einem Retter, der das Tapsige mit dem Dämonischen beglückend verbindet. Hier wird einmal, ohne zu viel Muskeln übrigens, die Energie des Mythos erfahrbar: eine Epiphanie, die aus unserem drögen Alltagspsychologisieren herausführt. Aber es kann eben nicht jeder ein Herakles sein.

Dieter Dorns "Alkestis" ist am Münchner Residenz-Theater, Max-Joseph-Platz 1, zu sehen.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2009
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