Erinnert sich noch jemand? Am Anfang der Diskussion über Fahrverbote stand eine illegale Abschaltvorrichtung, die VW und andere Autobauer "serienmäßig" in Dieselfahrzeuge verbauten und die mit einer Betrugssoftware Abgaswerte manipulierte. Wenn die Politik heute über "Hardware-Nachrüstungen" und "Software-Updates" diskutiert, deutet sie zwar an, dass Fahrzeuge ein funktionales Äquivalent zu Computern sind, doch denkt sie die Computerisierung der Gesellschaft nicht konsequent zu Ende.
Smartphones, Türsysteme, Kühlschränke oder Autos sind Computer. In einem modernen Fahrzeug stecken durchschnittlich 100 Millionen Zeilen Programmcode. Zum Vergleich: Das Weltraumteleskop Hubble kommt mit etwa 50 000 Zeilen Code aus. Ein Auto ist ein rollender Hochleistungsrechner, auf dem unter anderem die Applikation Fahren vorinstalliert ist. Die Politik muss den Dieselskandal daher als das begreifen, was er in erster Linie ist: ein Informatik-Problem, bei dem der Code als Aktant eine Schlüsselrolle einnimmt.
Was ist der Nutzen einer Technik, die Mobilität ermöglicht, aber Tausende Tote fordert?
Man könnte jetzt lange darüber diskutieren, ob man auch Fahrzeuge einem Algorithmen-TÜV unterziehen müsste, wo nicht nur die Hardware, sondern auch die Software, sprich die Zahlenreihen, auf den Prüfstand gehoben werden. Doch indem die Regierung die Rhetorik der Industrie wie "Hardware-Nachrüstungen" und "Software-Updates" reflexionsfrei übernimmt, suggeriert sie dem Wähler und Kunden, dass die manipulierten Geräte nicht mehr auf dem neuesten Stand seien - und bagatellisiert damit den Betrug. Der Betrug wird zum Bug, zum Programmfehler, den man mit der richtigen Software überspielen und korrigieren kann. Der Code des Rechtsstaats (Recht/Unrecht) wird vom binären Machtcode überwölbt.
Es geht hier, philosophisch wie informatisch, um Ontologie: Das Auto wird noch immer als zweites Wohnzimmer imaginiert, als Design-Objekt mit gediegenem Interieur, Sitzkomfort und edler Haptik - kurz: als Immobilie. Wenn man einen Neuwagen "konfiguriert", ist das so, als wenn man im Möbelhaus eine neue Wohnung einrichtet. Man hat in den mit Technik vollgestopften Vehikeln das Gefühl, im Cockpit eines Flugzeugs zu sitzen. Allein, an den Schalthebeln sitzen andere. Man sieht unter den Bedienelementen nicht die CPU, den faulen Code, die Datenspuren, welche die Überwachungsmaschinerie durch diverse Steuergeräte erzeugt, die Emissionen, die als Ergebnis tausendfacher Rechenoperationen hoffentlich gesetzeskonform aus dem Auspuff gejagt werden. Man kann nicht einfach die Motorhaube öffnen und in den Maschinenraum schauen. Moderne Fahrzeuge sind eine Blackbox.
Vielleicht liegt es an der libidinösen Verbindung der Deutschen zum Automobil, am Mythos eines Freiheitsvehikels, dass das Auto noch immer romantisch verklärt wird. Doch Autos sind bei Licht betrachtet Todesmaschinen. Jedes Jahr kommen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Laut einer Studie sind seit 1950 auf Deutschlands Straßen bei Verkehrsunfällen fast 780 000 Menschen umgekommen - das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Frankfurt.
Der kürzlich verstorbene französische Philosoph Paul Virilio, der mit seiner Theoriefigur des "rasenden Stillstands" berühmt wurde, gab dem Magazine Littéraire 1995 ein bemerkenswertes Interview, in dem er den Autounfall als Zeichen eines Bürgerkriegs deutete. Wenn man sieht, wie SUVs wie Panzerfahrzeuge über den Asphalt brettern und die Fahrer das Recht des Stärkeren beanspruchen, könnte man tatsächlich an Bürgerkriegsszenen denken, wobei der Ursprung nicht allein in der Beschleunigung liegt, sondern in einer allgemeinen Militarisierung von Städten. Der "rasende Stillstand" zeigt sich nirgendwo so plastisch wie im Stau: Laut ADAC standen deutsche Autofahrer 2017 457 000 Stunden im Stau - das entspricht 52 Lebensjahren. Die Zeit rast, aber im Stau herrscht Stillstand.
Auch Abgase sind die Folge einer Beschleunigung von Bytes und Atomen. Sie entfalten eine letale, weil toxische Wirkung. Laut einer Studie der Organisation Environmental Health Analytics (LLC) sterben jährlich weltweit 107 000 Menschen an Stickoxiden durch Abgase von Dieselfahrzeugen. Würden die Hersteller die Vorgaben einhalten, gäbe es 38 000 Todesfälle im Jahr weniger, so die Forscher. Hieß es einst "Stadtluft macht frei", muss man heute konstatieren: Stadtluft macht krank. In einigen Metropolen Indiens ist die Lebenserwartung aufgrund der Emissionen um mehrere Jahre reduziert.
Man darf unterstellen, dass diese Erkenntnis bis in die Amtsstuben der Umweltbehörden vorgedrungen ist. Eine Politik, die rational ist, müsste daher Autos mit ähnlichen Warnhinweisen wie Zigarettenschachteln versehen: "Fahren gefährdet die Gesundheit." Gewiss gibt es auch noch andere Emissionsquellen als Autos wie etwa Industrieanlagen. Es wäre aber ein aufklärerisches Gebot, solche Kausalzusammenhänge zu benennen. Es scheint, als wäre die Auto-Lobby in ihrem agnotologischen Bestreben, Zweifel zu säen und den Verstand der Öffentlichkeit zu vernebeln, erfolgreicher als die Tabaklobby. Die Autoindustrie ist sogar noch viel dreister, wenn sie etwa für "Umweltprämien" wirbt, was suggeriert, als könnte man autofahrend die Umwelt schonen. Das ist ungefähr so, als wenn ein Tabakkonzern Werbung für "gesunde" Zigaretten machen würde.
Aus dem Auto ist eine Anti-Utopie geworden, aus Autofreiheit eine Utopie
Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat jüngst eine beherzte Streitschrift mit dem Titel "Respirer" (zu Deutsch: Atmen oder Durchatmen) vorgelegt, in der sie für ein Recht auf saubere Luft plädiert. "Man stirbt nicht morgen an der Luftverschmutzung. Man stirbt heute", schreibt sie lakonisch. Emissionen seien die dritthäufigste Todesursache nach Alkohol und Tabak in Frankreich. Hidalgo erwähnt einen Lungenfacharzt, der vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission den Abgeordneten weismachen wollte, dass Diesel nicht gefährlich sei und wegen Falschaussage zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 50 000 Euro verurteilt wurde. Die Industrie mache Profite auf Kosten der Gesundheit und schnüre den Stadtbewohnern die Luft zum Atmen ab, kritisiert Hidalgo. Paris will bis 2030 alle Verbrennungsmotoren aus dem Stadtzentrum verbannen. So schnell ändern sich die Zeiten: Aus dem Auto ist eine Anti-Utopie geworden, aus Autofreiheit eine Utopie.
Man muss die Dieseldebatte aus einer isolierten Umweltbetrachtung herauslösen und auf eine Ebene der Technologiekritik heben. Was ist der Nutzen einer Technik, die zwar Mobilität ermöglicht, aber den Tod von Tausenden Menschen fordert? Hieße die Computerrealität von Autos anzuerkennen nicht, jedes Fahrzeug standardmäßig per reverse engineering zu dekonstruieren und die Software als Open Source zu formulieren, weil die Externalitäten alle angehen? Müsste man im Geist der Degrowth-Bewegung fragen, ob nicht weniger Wachstum und Geschwindigkeit für ein nachhaltiges Gemeinwesen erstrebenswert wären?
Virilio schrieb in seinem Werk "Geschwindigkeit und Politik" (1980): "Das revolutionäre Kontingent gewinnt seine ideale Gestalt nicht an den Produktionsstätten, sondern auf der Straße, wenn es aufhört, ein technisches Relais der Maschine zu sein (...)" Das In-Bewegung-Setzen der Massen ist die zentrale Machttechnik der Dromokratie, der Herrschaft der Geschwindigkeit. "Je mehr Massen unterwegs sind, umso weniger ergibt sich die Notwendigkeit zu großen Repressionen; um die Straße zu leeren, genügt es, allen die Straße zu versprechen."
Wo keine Grenzwerte überschritten werden, gibt es auch kein Umweltproblem
In diesem Sinn agiert auch die Bundesregierung dromokratisch, wenn sie Fahrverbote um jeden Preis verhindern will. Solange die Blechlawine rollt, ist alles in Bewegung, ärgert sich der Pendler zwar, wenn er mal wieder im Stau steht, wird aber seines Rechts auf freie Fahrt nicht beraubt und demonstriert nicht. Wer Auto fährt, geht nicht auf die Straße. Und wo alles in Bewegung ist, bewegt sich nichts. Mobilmachung als politischer Immobilismus.
Wenn die Bundesregierung nun offenbar erwägt, den Grenzwert für Stickstoffdioxid zu erhöhen, setzt sich die Technisierung des Politischen fort. Wo keine Grenzwerte überschritten werden, gibt es auch kein Umweltproblem, mithin nichts, was politisierungsfähig wäre. Wenn aber Luftreinhaltungsmaßnahmen nach politischer Großwetterlage justiert werden, relativiert sich auch die Grenzwertigkeit von Abschaltvorrichtungen. Jeder passt sich an die veränderten Umweltbedingungen an. Wer die Computerisierung der Gesellschaft zu Ende denkt, muss wissen: Nicht die Modelle bestimmen die Wirklichkeit. Sondern die Wirklichkeit das Modell.