Als Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ehrte ihn die Jury als einen Autor, "der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Geburtsstadt neue Symbole für den Zusammenprall und die Verflechtung der Kulturen" gefunden habe. Ausgezeichnet wurde ein Schriftsteller, der souverän über die Mittel des zeitgenössischen westlichen Romans verfügt und in seinen besten Büchern ("Schnee", "Rot ist mein Name", "Das schwarze Buch") an Kafka oder Nabokov anschließt.
Erst die Verbindung von beidem, von Istanbuler Melancholie und literarischer Kühnheit, hat Pamuks Rang begründet, jedenfalls in der westlichen Welt. Dass man in zwei Kulturen bewandert und dabei zugleich "absolut modern" sein konnte, war eine Vorstellung, die nicht nur die Schwedische Akademie bezauberte.
Der heimliche Held ist der Bauunternehmer - er tritt auf als Architekt der Zerstörung
Diese Vorgeschichte muss man in Erinnerung rufen, wenn man Pamuks neuen Roman "Diese Fremdheit in mir" zur Hand nimmt. Etwas hat sich verändert in Pamuks Schreiben seit dem Nobelpreis vor zehn Jahren. Mehr denn je ist jetzt die Klage um die Verwandlung und Zerstörung des alten Istanbul ins Zentrum gerückt. Stärker als früher auch scheint Pamuks Hang zum Melodram zu sein.
In Pamuks Roman "Das Museum der Unschuld" trat noch eine dritte Tendenz hinzu. Die Dinge der Vergangenheit sollen vor dem Vergessen bewahrt, sie sollen aufbewahrt und gezeigt werden, nicht mehr nur im Roman, sondern im Museum. So baute sich Pamuk eine private Institution für seine eigenen Memorabilien, als wolle er den eigenen Landsleuten eine Lektion in Melancholie erteilen. Seine Bücher sollen und wollen nun, so scheint es, vor allem im eigenen Land verstanden werden und Wirkung erzielen.
Komplexe fiktionale Bauwerke
Auf den ersten Blick wirkt der neue Roman freilich wie eines jener komplexen fiktionalen Bauwerke, wie sie Pamuk berühmt machten. Ein ganzes Ensemble von Erzählstimmen trägt eine Handlung vor, die der barocke Untertitel sogleich in ihrer Absicht erläutert: "Abenteuer und Träume von Mevlut Karatas, einem Boza-Verkäufer, und seiner Freunde, zugleich ein Porträt des Lebens in Istanbul von 1969 bis 2012 aus vielen verschiedenen Perspektiven". "A Strangeness in My Mind", heißt die Gedichtzeile von Wordsworth, die dem Roman den Titel gibt.
Man tut sich schwer, bei Mevlut, dem Protagonisten, tatsächlich Spuren dieser Fremdheit zu entdecken. Und wenn, dann ist es nur eine sehr leichte Fremdheit, so wie Boza, das Mevlut über vier Jahrzehnte mit seinem Lastjoch durch Istanbul trägt, ein sehr leichtes alkoholisches Getränk ist. Boza, gemacht aus fermentiertem Weizen, war, wie man lernt, ein beliebtes Getränk zu Zeiten des Sultanats, als Alkohol verpönt, aber ein kleiner Drink trotzdem willkommen war.
Zur Zeit des Romans will in Istanbul kaum einer mehr Boza trinken, weshalb Mevlut sein Angebot auf Joghurt, Eis, Hähnchen mit Pilav und manch anderes ausdehnt. Boza, der Alkohol, der je nach Betrachtungsweise gar keiner ist, der die Gläubigen so froh stimmt wie die Ungläubigen, der so leicht ist, dass er niemandem schadet - Boza ist hier ein Symbol für gelebte Toleranz und friedvolles Miteinander, und sei es auch um den Preis eines ordentlichen Alkoholgehalts. Boza, so könnte man auch sagen, ist die Super-Metapher für diesen Roman selbst.