Süddeutsche Zeitung

Die Zukunft Europas:Kosmopolitische Vision

Welches Europa übersteht die aktuelle Krise? Seine zivilisatorische Rolle hat der Kontinent verloren, denn nur eine Minderheit der Europäer ist wirklich bereit, etwas für die Weltgerechtigkeit abzugeben. Doch zu dem globalen Lernprozess, Gerechtigkeit immer wieder neu zu erfinden, kann Europa entscheidend beitragen - und vieles für sich selbst dabei lernen.

Sérgio Costa

Der rasante wirtschaftliche Aufstieg außereuropäischer Länder wie China und Brasilien, die Krise des Euro, aber auch der sinkende Einfluss Europas in der Weltpolitik verleihen der Frage nach der Zukunft Europas eine neue Dringlichkeit. Im Vordergrund steht nicht mehr der Zweifel an der Überlebensfähigkeit eines vereinten Europas. Die Integrationsprozesse auf politischer, ökonomischer und der Ebene des Alltags sind schon so weit entwickelt, dass ein Rückzug ins Nationale nicht mehr plausibel erscheint. Die relevante Frage ist also nicht ob, sondern welches Europa die aktuelle Krise überstehen wird.

In den aktuellen Debatten lassen sich mindestens drei Positionen erfassen, mit denen unterschiedliche Vorstellungen für die europäische Zukunft zusammenhängen. Ich möchte sie hier "koloniales Europa", "universalistisches Europa" und "kosmopolitisches Europa" nennen. Die Position "koloniales Europa" hat ein widersprüchliches Verhältnis zu Europa selbst. Einerseits verteidigen ihre Vertreter die europäischen Nationen und nationalen Identitäten und diskreditieren die Europäische Union. Andererseits blicken sie nostalgisch auf die Vergangenheit zurück, als Europa die Welt kolonial beherrschte. Sie fordern auch die "wahren Europäer" auf, gegen Migration und Islamisierung Widerstand zu leisten.

Beobachtet man den gegenwärtigen Vormarsch der Rechtspopulisten europaweit, könnte man den Eindruck gewinnen, dass das Zeitalter des kolonialen Europas eine Renaissance erleben könnte. Sicher ist der politische Erfolg von Geert Wilders, Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache und anderen Rechtspopulisten bedrückend. Für ein "koloniales Europa" fehlt jedoch die demographische und materielle Grundlage. Die Bevölkerung Europas ist heute in Bezug auf ihre Herkunft unwiderruflich heterogen. Der Islam ist Teil des Kontinents. Multikultur (nicht Multikulturalismus!) macht Europa aus. Weltpolitisch bleibt Europa ein wichtiger Player, der aber allein kein Spiel mehr entscheidet.

Die zweite Position, das "universalistische Europa", verbindet die europäische Vergangenheit nicht mit Kolonialismus, sondern mit der Entfaltung der Aufklärung, der Menschenrechte und des Rechtsstaats in Europa selbst. Demzufolge wird Europa als eine von anderen Weltregionen losgelöste Insel dargestellt, auf der sich die Moderne und ihre Tugenden entwickelt haben. Intern wird Europa als eine imaginierte Gemeinschaft definiert, die politisch ausgebaut werden kann und sollte.

Abgrenzung zu den USA

In Deutschland verkörpert der Philosoph Jürgen Habermas diese Position exemplarisch. Er definiert die Rolle Europas in der Weltpolitik heute und auch künftig in Abgrenzung zu den USA. Geht die US-amerikanische Präsenz weltweit mit einer imperialen Machtpolitik einher, so tritt Europa für die Belange einer Weltbürgergesellschaft ein: soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie.

So verdienstvoll diese Position ist, so scheitert sie an zwei wichtigen Voraussetzungen: an ihrer Akzeptanz in Europa und der legitimierenden Zustimmung der Nicht-Europäer. Nur eine Minderheit in Europa nämlich ist wirklich bereit, etwas für die Weltgerechtigkeit abzugeben. Überdies bestreiten die USA und andere Regionalmächte die europäische Deutungshoheit in Sachen Menschenrechte und Demokratie. Außerdem sehen die gegenwärtigen Menschenrechtler wie die Protagonisten des Arabischen Frühlings oder die Aktivisten der indigenen Bewegungen in Lateinamerika oder auch die Roma- und Sinti-Bürgerrechtler in Europa ihre eigenen Kämpfe nicht als eine Umsetzung europäischer Errungenschaften. Im Gegenteil, sie wollen ein gewisses europäisches Vermächtnis mit den ethnischen, politischen und religiösen Spaltungen, die es hervorgebracht hat, überwinden. Damit bleibt das "universalistische Europa" nur ein Ideal, das unwahrscheinlich eintreten wird.

In der dritten Position, dem "kosmopolitischen Europa", findet heute ein semantischer Streit statt. Denker wie Ulrich Beck und Edgar Grande verteidigen unter dem Label "kosmopolitisches Europa" eher die oben genannte universalistische Ansicht. Für einen emphatischen Kosmopolitismus treten Gelehrte wie der indische Historiker Dipesh Chakrabarty oder hierzulande die Kulturanthropologin Shalini Randeria ein. Sie verstehen die europäische Geschichte als Teil einer verwobenen Moderne, zu der Europa, Amerika, Afrika und alle anderen Weltregionen in gleicher Weise gehören. In der globalen Geschichte hängen auch Aufklärung und Kolonialismus, Menschenrechte und Sklaverei untrennbar zusammen. Die Vormachtstellung Europas, als es sie innehatte, bezieht sich damit auf beides, sowohl auf die Tugenden als auch auf die Miseren der Moderne.

In dieser Position nimmt das kosmopolitische Europa seine kulturelle, religiöse und soziale Heterogenität nicht als Drohung, sondern als Potential wahr. Deshalb muss auch ein kosmopolitisches Europa, anders als Habermas oder Beck es wollen, ohne den Appell nach einer europäischen Identität oder einer europäischen Öffentlichkeit auskommen. Die normativen Ligaturen Europas liegen nämlich nicht in der politischen Erzeugung von Gemeinsamkeiten - Europa ist kein Nationalstaat im großen Format. Das soziale Bindeglied eines kosmopolitischen Europas ist die bereits vorhandene Pluralität von postnationalen "convivial contexts", wie Paul Gilroy, Soziologe der London School of Economics, Räume nennt, in denen die Interaktionen nicht durch Zuschreibungen wie Hautfarben, Herkunft oder Geschlecht bestimmt werden. Dieses neue Miteinander findet man nicht nur in einzelnen Bereichen wie Sport oder Kunst, sondern auch im Alltag von Schulen, Unternehmen und Nachbarschaften. In diesen verstreuten Erfahrungen wächst das kosmopolitische Europa zusammen, und hier muss die Politik ansetzen.

Die demokratische Legitimität jenseits der Nation darf von der unwahrscheinlichen Erzeugung einer europäischen imaginierten Gemeinschaft von oben nach unten nicht abhängen. Postnationale Legitimität muss auf "convivial contexts" setzen, in denen Postnationalismus bereits Alltagserfahrung ist. Die politische Herausforderung besteht genau darin, demokratische Verfahren und politische Institutionen zu entwickeln, die zwischen übernationalen Erfahrungen und europäischer Willensbildung vermitteln.

Nach außen muss Europa, so die Kosmopoliten, seine ambivalente Rolle erkennen und womöglich grobe Inkonsistenzen überwinden. Wie alle anderen Länder vertreten die Europäische Union und auch die einzelnen europäischen Staaten in der Weltarena Eigeninteressen. Europa darf aber nicht als Akteur der sozialen Gerechtigkeit eintreten und gleichzeitig an protektionistischen Maßnahmen gegen Agrarimporte aus armen Ländern festhalten. Es darf sich nicht als Vorreiter der Menschenrechte weltweit präsentieren und Europas Grenzen für politische Flüchtlinge dicht machen. Es darf nicht eine altruistische Rhetorik der Militärinterventionen zum Schutz der Zivilbevölkerungen pflegen und gleichzeitig Diktatoren mit schweren Waffen beliefern.

Die kosmopolitische Vision entspricht einer dezentrierten Welt, in der kein Akteur allein dominiert. Mit seiner Heterogenität und seinen Verflechtungen mit allen anderen Weltregionen ist Europa aber prädestiniert, in einer kosmopolitischen Konstellation eine konstruktive Rolle zu spielen. Dies wird sicherlich nicht mehr die missionarische und zivilisatorische Rolle sein, die viele von Europa noch erwarten. Für die kritischen Problemlagen in einer verwobenen Weltgesellschaft hat Europa nicht die Lösung. Mit seiner kolonialen und imperialen Vergangenheit, seiner gegenwärtigen Handlungsunfähigkeit ist es Teil des Problems. Weder politisch noch moralisch ist Europa in der Lage, Menschenrechte und Demokratie weltweit zu belehren. Zu dem globalen Lernprozess, Gerechtigkeit immer wieder neu zu erfinden, kann Europa aber entscheidend beitragen - und vieles für sich selbst dabei lernen.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin

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SZ vom 20.07.2011/cris/pak
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