Zur Blumenübergabe hat der Roboter seinen großen, von Maschinenbauern der Ruhr-Universität Bochum gesteuerten Auftritt. In stolzer Gemächlichkeit rollt er von rechts auf die Bühne des Anneliese-Brost-Musikforums Ruhr und streckt den gelenkigen Arm artig nach Rudolf Buchbinder aus. Auch die Zuschauer unten im Saal hält es nicht mehr auf den Sitzen. Mit stehenden Ovationen feiern sie mindestens ebenso sehr sich selbst wie den Pianisten. Schließlich haben sie gerade an etwas teilgenommen, was in normalen Zeiten nicht einmal der Erwähnung wert wäre: an einem Klavierabend mit, nun eben, Publikum. Doch was wäre schon normal in diesen Zeiten? Bis zu 228 Hörer dürfen hier in Bochum Platz nehmen in einem Saal mit eigentlich 952 Sitzen, um 17 Uhr und dann noch einmal um 21 Uhr. Dazwischen wird der Konzertsaal gereinigt und desinfiziert. Am Eingang steht Desinfektionsmittel bereit, freundliche Saaldiener drängeln, damit keine Menschenansammlungen entstehen. An der Garderobe regelt ein Leitsystem aus Absperrbändern den Publikumsverkehr, die Toiletten dürfen nur einzeln besucht werden. Auch deshalb finden die Konzerte ohne Pause statt, darf Buchbinder nur jeweils 75 Minuten spielen.
Dennoch wirken die Besucher entspannt am ersten Abend des Klavierfestivals Ruhr, das ursprünglich schon im April hätte beginnen sollen. Bis in den Saal müssen sie Maske tragen, zum Hören darf sie abgenommen werden. In Bayern wäre das nicht möglich, wo die Staatsregierung erst ab 15. Juni in Innenräumen gerade mal 50 Besucher, in Außenräumen hundert Besucher mit Masken erlaubt. "Klassik im Odeonsplatz" in München, das sonst im Juli vor zweimal 8000 Hörern stattfindet, wurde deshalb am Donnerstag abgesagt.
Weil Kultur in noch höherem Maß als andere Bereiche Ländersache ist, herrscht momentan maximale Unübersichtlichkeit im Musikbetrieb. Noch immer trudeln täglich Absagen ein, teilweise für den Rest der Spielzeit. Das Staatstheater Wiesbaden dagegen hat vor knapp drei Wochen mit ersten Lieder- und klavierbegleiteten Opernabenden begonnen, am vergangenem Mittwoch folgte die Oper Frankfurt. Auch im Gewandhaus Leipzig wird es ab Sonntag wieder erste Kammerkonzerte geben, in Berlin dagegen zeigt die Deutsche Oper ab der kommenden Woche Richard Wagners "Rheingold" in einer Verzweiflungsversion auf ihrem Parkdeck.
Auch die erfolgreichsten Musiker nutzen momentan jede Möglichkeit, endlich wieder aufzutreten
Nordrhein-Westfalen dagegen hat die Regeln am Frühesten gelockert. Sofern ein ausgearbeitetes Hygiene- und Abstandskonzept vorliegt, gilt auch für Besucher in Konzertsälen nur noch der Mindestabstand von eineinhalb Metern. Mit nur drei freien Plätzen dazwischen kann deshalb jeweils ein einzelner oder ein Pärchen in Bochum Platz nehmen. Im Gespräch danach betont Franz Xaver Ohnesorg, der Intendant des Klavierfestivals Ruhr, dass er dennoch mehr als nur die nötigsten Regeln einhalte. So beschränke man sich beim traditionell auf mehrere Standorte im Ruhrgebiet verteilten Festival auf Säle mit guten Belüftungssystemen, bei denen potenziell virenverseuchte Atemluft gleich nach oben abgesaugt wird.
Schließlich könnte eine Massenansteckung im Konzert rasch dazu führen, dass nicht nur beim Klavierfestival die Säle rasch wieder geschlossen würden. Die Adresse und Telefonnummer jedes Besuchers wird beim Kartenkauf gespeichert. Erweist sich auch nur einer später als infiziert, müssen sich alle Umsitzenden testen lassen oder in Quarantäne. Dass das abschreckend wirkt, ist im Anneliese-Brost-Musikforum durchaus noch leicht zu spüren. Zum ersten Konzert sind 182, zum zweiten 152 Besucher gekommen, die meisten von ihnen klassische Konzertgänger aus der Hochrisikogruppe der Älteren.
Dazu gehört mit inzwischen fast 65 Bühnenjahren eigentlich sogar der Pianist selbst, der dennoch momentan noch rühriger wirkt als in normalen Zeiten.
Mit den Münchner Philharmonikern hat Rudolf Buchbinder vor wenigen Tagen Klavierkonzerte von Haydn und Beethoven für einen Stream eingespielt, den man an diesem Wochenende über die Homepage des Orchesters abrufen kann. Dazu hat er am Mittwoch die Rettung seines eigenen Festivals in Grafenegg ab Ende August verkünden können. Weil es Österreich schon lockerer zugeht, sollen bis zu 1250 Zuschauer an den allesamt open air veranstalteten Konzerten teilnehmen. Das neue Programm liest sich wie ein Promischaulaufen des Klassikbetriebs. Anna Netrebko, Jonas Kaufmann und Piotr Beczała in Grafenegg singen, die Wiener Philharmoniker drei Abende bestreiten, Buchbinder selbst fünf. Auch die erfolgreichsten Musiker nutzen momentan jede Möglichkeit, endlich wieder aufzutreten. Dass das Applaus das eigentliche Brot des Künstlers sei, ist in normalen Zeiten eine Phrase. Dass in ihr dennoch Wahrheit steckt, merkt man Buchbinder in Bochum an, der hier endlich die deutsche Erstaufführung eines Herzensprojekts präsentieren kann: die neuen Diabelli-Variationen, die er bei elf prominenten zeitgenössischen Komponisten in Auftrag gegeben hat.
Mit nur 152 Besuchern klingt das Anneliese-Brost-Musikforum so überakustisch wie sonst nur leere Konzertsäle
Als renommierter Beethoven-Interpret greift Buchbinder damit im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag die Entstehungsgeschichte von dessen Diabelli-Variationen auf, die er im Anschluss im selben Programm spielt. Vor fast genau zweihundert Jahren hatte der Verleger Anton Diabelli fünfzig österreichischen Komponisten einen kleinen Walzer geschickt, zu dem sie jeweils eine Variation beisteuern sollten. Nur Beethoven, der schon damals prominenteste, aber auch schwierigste Komponist seiner Zeit, lieferte gleich 33 davon.
Dagegen bleiben die von Buchbinder angefragten Zeitgenossen vergleichsweise brav und tun fast alle, was schon Beethoven tat: Sie variieren motivische Bruchstücke des Walzers, gern auch den lustigen Auftakt mit Vorschlag, der es schon Beethoven besonders angetan hat. Das ist am Faszinierendsten dort, wo dennoch ganz unterschiedliche Zugänge hörbar werden. Etwa wenn auf Toshio Hosokawas abgrundtief melancholische Dehnung Beethovenscher Phrasen eine lebensbejahende Rockversion von Christian Jost folgt. Oder wenn der Hardcoreavantgardist Philippe Manoury in der alphabetischen Ordnung der Komponistennamen unmittelbar auf den Weichspülklassiker Max Richter prallt. Obwohl alle Beteiligten hörbar den Hut vor Beethoven ziehen, bleiben sie in ihrer eigenen Klangsprache erstaunlich unverkennbar. Aus der Spannung dazwischen bezieht der Zyklus enormen Reiz, der zum Schluss einen virtuosen Rausschmeißer in einem der postmodernen Spiegelkabinette von Jörg Widmann findet, irgendwo zwischen Beethoven und Boogie-Woogie, großer Oper und Radetzkymarsch. Nur das Umwenden der Noten ohne professionellen Umblätterer ist für Buchbinder eine zusätzliche Herausforderung, weil Roboter das wahrscheinlich noch nicht können oder noch nie danach gefragt wurden.
Dass es nicht das einzige Problem der neuen Bedingungen werden könnte, ahnt man danach bei Beethovens eigenen 33 Variationen. Hier fehlt es nämlich an Zuhörern, genauer: am Stoff ihrer Kleider. Mit nur 152 Besuchern klingt das Anneliese-Brost-Musikforum so überakustisch wie sonst nur leere Konzertsäle. Zumal Buchbinder gerade jetzt als älterer Pianist einen schroffen Zugang zu dem Zyklus wählt, wie man bereits auf der im März erschienenen CD mit dem Projekt hören konnte. Ihn interessiert inzwischen vor allem das Ungebärdige, Launische, Rüde an Beethoven, weshalb er die meisten Variationen geradlinig anspielt, kernig im Klang, rasant oft im Tempo. Darunter leidet in dieser Akustik mächtig die Klarheit, verschwimmen schnelle Läufe oft zum Klangbrei, was kaum an dem normalerweise sehr präzis artikulierenden Buchbinder liegen dürfte. Doch die wichtigere Nachricht lautet wohl vorerst ohnehin: Ein Klavierabend hat wieder stattgefunden!