Süddeutsche Zeitung

Die Welt vor dreißig Jahren :Stromquelle Geschichte

Lesezeit: 5 min

Es gibt viele Bücher über die deutsche Vereinigung. Aber ein Geschichtsbuch wie diese Text-Bild-Collage gab es noch nicht: "Das Jahr 1990 freilegen" von Jan Wenzel erzählt vom Alltag der Umbruchszeit.

Von Jens Bisky

Über das Jahr 1990 wird noch lange gestritten werden. Die Welt hat sich damals neu sortiert, und viele wünschen wenigstens ab und an, es wäre auf andere Weise geschehen, entschlossener beim Niederreißen des Alten oder behutsamer im Umgang mit dem Gewohnten, mit weniger Eile oder mehr Konsequenz, mit größerer Lust am Experimentieren und weniger Selbstzufriedenheit.

Was geschah, deuten Kalendereinträge des Jahres an. 29. Dezember 1989: Václav Havel wird Staatspräsident der Tschechoslowakei. 15. Januar 1990: Demonstranten stürmen die Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße. 11. Februar 1990: Nelson Mandela wird nach zehntausend Tagen Gefangenschaft aus der Haft entlassen. 18. März 1990: Die Allianz für Deutschland gewinnt die Volkskammerwahlen in der DDR. 21. März 1990: Namibia wird unabhängig. 1. Juli 1990: Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR tritt in Kraft. 2. August 1990: Die irakische Armee greift Kuwait an. 3. Oktober 1990: Die DDR tritt dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. 2. Dezember 1990: Helmut Kohls CDU gewinnt mit 43,8 Prozent die Bundestagswahlen.

Die Erfahrungen, die sich mit diesen Daten verbunden haben oder unabhängig von ihnen ihr Eigenleben führten, rekonstruiert der Band "Das Jahr 1990 freilegen", den Jan Wenzel im Leipziger Verlag Spector Books herausgegeben hat. Ein Jahr lang hat der Verleger Texte aus dem Epochenjahr gelesen, bekannte und vergessene Bücher zusammengetragen. Er traf sich mit Fotografinnen und Fotografen, um gemeinsam Kontaktbögen aus jener Zeit zu mustern, über die Entstehung der Aufnahmen zu sprechen. 32 Geschichten, die Alexander Kluge beigesteuert hat, regen dazu an, im Faktischen das Fantastische, im Zufälligen die Parabel zu entdecken.

32 Geschichten, die Alexander Kluge beisteuert, entdecken im Faktischen das Fantastische

Texte und Bilder wurden auf großen Seiten neben- und durcheinander zu einem Lesebuch montiert, in dem man schnell versinken und sich vergessen, zu dem man immer wieder zurückkehren kann und stets Neues entdecken wird. Fotos und Erzählungen, Reklame und Zitate kommentieren und widersprechen einander, bilden Augenblickskonstellationen. Das Buch sei, schreibt Jan Wenzel, der Versuch, seiner "Lektüreerfahrung eine Form zu geben, ein performatives Lesen". Herausgekommen ist eines der aufregendsten und aufschlussreichsten Geschichtsbücher der letzten Jahre.

Wenzel verzichtet auf einen alles besser wissenden Erzähler, aber nicht auf starke Meinungen und kluge Fragen. Er schreibt Geschichte, als führe er Leserinnen und Leser durch ein Schaudepot. Das Projekt wurde in Kooperation mit dem Leipziger Festival für Fotografie und dem Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst verwirklicht. Wer von den Zuschreibungsexzessen "Ich Ossi, du Wessi!" genug hat und dennoch die eigene Geschichte nicht links liegen lassen will, findet hier Angebote, wie über die Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Enttäuschung, Befreiung und neuer Festlegung, Emanzipation und Anpassung zu reden wäre.

Ein zufälliges Nebeneinander provoziert die Frage, was denn wichtiger gewesen sei, was warum im Gedächtnis bleibt. "War der Mauerfall wirklich das prägende Ereignis des '89er Herbstes? Oder hatte die Lizenzvergabe für den Aufbau eines digitalen Mobilfunknetzes an das Unternehmen Mannesmann durch das Bonner Postministerium wenige Tage nach der Öffnung der Mauer letztlich nicht viel weitreichendere Folgen?" Die Frage verlangt keine Antwort, sondern Suche. Auf den ersten Seiten des Bandes sind Film-Stills von Michail Gorbatschow am Stand von Nokia abgebildet, man hat da gleich zwei Beschleunigungsagenten beieinander. Das Mobira Cityman 900, das der Generalsekretär der KPdSU sich vorführen ließ, wog 800 Gramm und kostete 10 000 Mark. Werbung für die damals noch arg schweren und immens teuren Wunder der Telekommunkation taucht immer wieder auf in "Das Jahr 1990 freilegen".

Eine zeithistorische Publikation mit vergleichbarer Stimmenvielfalt dürfte schwer zu finden sein. Die Erfahrungen der Vertragsarbeiter in der DDR kommen ebenso vor wie die Lebensläufe einfacher Bundesbürger. Man erlebt Prominente im Gespräch mit Günter Gaus, liest von russischen Selbstmördern, deren Geschichte Swetlana Alexijewitsch aufgeschrieben hat. Helmut Kohls Berater Horst Teltschik berichtet aus dem Bundeskanzleramt, die in der DDR untergetauchte RAF-Terroristin Inge Viett schildert in Briefen aus dem Gefängnis ihre Sicht der Dinge. Sie war 1990 enttarnt und wegen versuchten Mordes verurteilt worden.

Dass gerade im Jüngstvergangenen wirkliche Funde möglich sind, beweisen die bei der Arbeit an diesem Buch wiederentdeckten Aufzeichnungen von Martin Gross, der 1990 aus dem Westen nach Magdeburg zog. Sein Buch "Das letzte Jahr" erschien 1992 bei Basis-Druck, der im Dezember 1989 in Ost-Berlin gegründet worden war, um in einer eigenen Zeitung der Bürgerrechtsbewegung eine Stimme zu geben. Von Januar 1990 an erschien die Wochenzeitung Die Andere. Gross, der heute nicht aufzufinden scheint, war ein kluger, genauer Beobachter. Am 24. Juni 1990 notierte er eine Art Stoßseufzer, West: "Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie ändert, denke ich: Warum nur für sie? Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern? Das Abenteuer, einmal zu erfahren, dass man alles auch ganz anders machen könnte. Aber wie es scheint, begegnet mir nur noch das Leben, das ich bereits kenne."

Was hätte der Theaterautor Thomas Brasch aus dem Stoff "Ibrahim Böhme" gemacht?

Ein Höhepunkt sind die Seiten über Ibrahim Böhme. Er galt im Frühjahr 1990 vielen als der kommende Ministerpräsident, war jedoch mit einem gefälschten Lebenslauf zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei der DDR gewählt worden. Ende März enthüllter der Spiegel, dass Ibrahim Böhme über zweieinhalb Jahrzehnte als inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi gearbeitete hatte. Die Fotografin Ute Mahler hat ihn über Wochen begleitet, ihre Fotos und Erinnerungen zeigen, dass Politiker zu werden auch heißt zu lernen, sich ständig fotografieren zu lassen. Nach seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit veränderte sich Böhme rapide, lag, wie Ute Mahler erinnert, "nur noch auf dem Sofa (...) krank, eingefallen, grau, völlig kaputt".

Der Herausgeber, der in Form von Zwischenüberschriften, eingeblockten Zitaten und Bemerkungen ständig unaufdringlich präsent ist, fragt: "Was hätte der Theaterautor Thomas Brasch aus dem Stoff 'Ibrahim Böhme' gemacht: 'ein Stück über einen, der sich an die Stromquelle Geschichte anschließt'?"

Die Bild-Text-Montage lässt sich wie ein Almanach nutzen, in dem man Woche für Woche nachliest, was vor dreißig Jahren gedacht, gefürchtet, erlebt wurde. Man könnte eigene Bilder und Briefe, Erinnerungsstücke und Textfetzen zu einem privaten Nebenalbum zusammenfügen, das eigene 1990 freilegen von Floskeln, Übermalungen, Fernsehbildern. Wie nah, wie fern ist jene Zeit? Viele der Beteiligten leben nicht mehr, die Mobilfunkgeräte sind deutlich kleiner geworden, Häuser und Straßen erfuhren Aufhübschung.

Aber manches liest sich, als stamme es aus der Gegenwart. Der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf notierte im September 1990 einen Traum, in dem "Menschen brauner Hautfarbe" in seinen Garten eindrangen, einige mit Turbanen. Er habe, "in der Vergangenheit viel über die Gefahr eines Einwanderungsdrucks aus dem Süden auf Europa gesprochen", sein Traum sei wohl "eine Umsetzung dieser Gedanken in Bilder". Wenige Wochen zuvor, im Juni, hatte er vor Triumphalismus gewarnt: "Wir sollten den Jubel über den 'Sieg des Kapitalismus' durch die Einsicht dämpfen, dass wir noch immer nicht gelernt haben, unsere Zivilisation und damit unsere Lebensweise im verträglichen Gleichgewicht mit der Natur zu organisieren." Die Devise laute "nicht mehr, den Treibhauseffekt zu verhindern, sondern sich auf seine Folgen vorzubereiten".

Chanel brachte 1990 den Herrenduft Égoïste auf den Markt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4744254
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.01.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.