Die Depression zu verklären und damit zu verschleiern, hat eine lange Tradition: In der Antike galt die Melancholie als Philosophenkrankheit, denn sie ging oft mit besonderen Geistesgaben einher. Aristoteles beschrieb sie als eine Art Eigendoping, als endogenen Rauschzustand. Immer wieder in der Geistesgeschichte wurde der Gemütskranke als Projektionsfläche für Erlösungssehnsüchte vereinnahmt. Er war entweder der erleuchtete Utopist oder der dissidente Schizo; mal nahm man das Leiden als Ausweis von intellektuellem Adel, mal als Erkennungszeichen des Ausnahmemenschen wahr. Noch Peter Sloterdijk betont den elitären Charakter der Depression, wenn er zustimmend von "Morbiditätsluxus" und "Passivitätskompetenz" spricht.
Ob die Depression für die Befreiung vom Ich-Zwang (Alain Ehrenberg) herhalten muss oder für die vom Diktat der Positivität (Byung-Chul Han) - Thomas Melle glaubt nicht an das Irresein als Gnadenstand, nicht an die Manie als "Wahnsagekunst", wie sie Friedrich Schleiermacher wortspielerisch aus dem Altgriechischen übersetzt hat. "Der Wahn ist keine seherische Gabe", schreibt Melle. "Und auch wenn es überproportional viele bipolare Fälle unter Künstlern und Schriftstellern gibt, würde ich meine Mitgliedschaft in diesem recht illustren Club gerne mit sofortiger Wirkung kündigen." Die Texte, die er selbst in manischen Phasen verfertigt hat, fallen vor allem durch ihren unfreiwilligen Dadaismus auf.
Für den Maniker hängt alles mit allem zusammen. Überall sieht er Zeichen, an ihn gerichtete Botschaften; stets ist er "mitgemeint". Die Referenzen spielen Roulette. In seiner ersten manischen Phase 1999 irrt Melle einen ganzen Tag lang durch Berlin, fest davon überzeugt, zu einer wichtigen Party eingeladen zu sein. David Bowie habe seinen Namen in "Space Oddity" zufällig erraten, glaubt er auf einmal. Die Promi-Obsession wird für ihn zum Ego-Booster. "Dass die Stars plötzlich aus allen Löchern gekrochen kamen, kannte ich schon", heißt es. "Dieser megalomanische Boulevard der Superstars, den ich immer wieder entlangrase in den Schüben, offenbart natürlich eine Fixiertheit auf Berühmte und Prominente, die auch schon in meinen gesunden Zeiten über das gewöhnliche Maß hinausgeht. Eine seltsame Eitelkeit spricht daraus, eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Größe."
Melle hat, zumindest in seinem hirnverbrannten Oberstübchen, Sex mit Madonna, schüttet einem wiederauferstandenen Picasso in einem Berliner Technoklub Rotwein in den Schoß. Er glaubt, Hans Magnus Enzensberger im Zug nach Hamburg zu erkennen, "als Frau verkleidet, im Nebenabteil. Soll das schlau sein? So enzensbergerschlau, immer eine Wendung weiter? Dieser ,Pfiffikus'!". Und er bevölkert ein imaginäres Alpen-Resort mit Samuel Beckett, Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann als lebenden Toten. Ein anderes Mal sieht er Bernhard in einem McDonald's in Wuppertal verdrießlich einen Big Mac verschlingen.
Melle führt diese Promi-Fixierung auf seine Herkunft aus dem Problemmilieu der Bonner "Haribo-Slums" zurück und die Suche nach Vorbildern. Er setzt "Breitbandlernen" gegen die Enge, kommt als Internatsschüler ans Jesuitenkolleg, wird Studienstiftler und geht nach Berlin. Und er will sich einschreiben in die neue Popliteratur. Da ballen sich schon Vorläufer des manisch-depressiven Temperaments bedrohlich zusammen. "Wie soll denn das auch klappen: Ein Arbeiterkind aus schwierigen Verhältnissen wird von den Jesuiten intellektuell aufgepimpt, von Nabokov ins Schöngeistige verschickt und vom Studium ins Nichtmehrvorhandensein theoretifiziert, und das soll dann, die Genetik noch im Nacken, ein Dichter werden, oder wie, ein glücklicher Mensch? Hört mir auf!"
Hier schreibt Thomas Melle über die Umwelteinflüsse, die zu Auslösern werden. Weitere Trigger sind die Songlines des Pop und das Nachtleben. Der Zerrspiegel der Paranoia erscheint geradezu ideal für das Berlin der Nullerjahre, den hedonistischen Rausch, den diese "Mini-Kulturgeschichte" miterzählt. "Außen war Psychofasching, innen wüteten Geschichtsparanoia und semantischer Wahn."
Eine Falltür aber öffnet ihm das Internet. Als das literarische Schreibprojekt "am pool" online geht, manipuliert er mit einem Hacker-Freund die Einträge von Autoren wie Rainald Goetz, Moritz von Uslar und Christian Kracht - ein schräger Versuch, sich mit ihnen zu vergemeinschaften. Das Netz ist seine Abschussrampe in eine Parallelwelt. Melle wird zum Internet-Troll, aber auch zum Kurzzeit-Stalker. Systematisch zerstört er alles, was ihn hält, verliert die Wohnung, die Freunde, sich selbst. Es folgt die stationäre Behandlung und auf die manisch verstrahlte Phase die Apathie im Abklingbecken der Depression, mit Medikamenten wird er heruntergefahren. "Tage aus Milchglas."
Ist Gesundheit etwas anderes als ein biochemischer Zustand des Körpers?
Für den Leser ist diese Absturzchronik eine zwiespältige Lektüreerfahrung, wird er doch einer Subjektivität ausgeliefert, die total ist, ja totalitär, weil sie sowohl Gegenstand als auch Medium der Darstellung ist. Inwieweit lassen sich neurochemische Prozesse überhaupt durch Beschreibung der Zustände verstehen, als die sie erlebt werden? Andererseits: Ist Gesundheit denn etwas anderes als ein biochemischer Zustand? Und war es nicht von jeher die Aufgabe der Dichtung, das zu beschreiben, was sich noch nicht benennen lässt?
Was zum Lob seines autopoetischen Erzählexperiments zu sagen ist, hat Melle schon selbst seinen Vorbildern nachgerühmt: "(. . .) die Künstler hatten aus ihren Schwächen und Beschränktheiten doch selbst etwas anderes, etwas Öffnendes, über sich selbst Hinausweisendes gemacht, Kunst, drastische Kunst, die mir die Spucke wegbleiben ließ."
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 352 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
(Foto: dpa)