"Die Welt im Rücken" von Thomas Melle:Außen Psychofasching, innen Geschichtsparanoia

Lesezeit: 6 min

Thomas Melle Schriftsteller fotografiert am 29 September in Berlin Kreuzberg

Sein Körper sei in Geiselhaft der Medikation. "Und das täglich in kleiner Münze ausgezahlte Lösegeld heißt Normalität", schreibt Thomas Melle.

(Foto: imago/Christian Kielmann)

Thomas Melle hat ein Buch über seine manisch-depressive Erkrankung geschrieben. Es ist kein Roman, aber blitzhelle Stroboskop-Prosa.

Von Christopher Schmidt

An einer Stelle in "Die Welt im Rücken" schreibt Thomas Melle über seinen Schriftsteller-Kollegen Karl Ove Knausgård, er sei "unser aller Pin-und-Pop-up-Boy, dem ich im Übrigen kein einziges Wort glaube". Die Stelle ist bemerkenswert aus zwei Gründen: Zum einen, weil Melle etwas ganz Ähnliches beabsichtigt wie Knausgård mit seinem sechsbändigen autobiografischen Zyklus, nämlich, vom eigenen Leben ohne jede Fiktionalisierung zu erzählen. Auch Melles Buch soll nichts anderes sein als unmittelbare Lebensmitschrift, ungefiltert, naturtrüb, unplugged. "Es ist Literatur, doch alles ist wahr, nichts erfunden", hat er in einem Interview gesagt.

Melle beruft sich damit auf eine Qualität, für deren Zweifelhaftigkeit er allerdings selbst das beste Beispiel liefert, und zwar aus Gründen, die durch sein Thema bedingt sind: seine manisch-depressive Erkrankung, die er als Aufstand der entfesselten Zeichen erlebt.

Im Buch findet sich denn auch noch ein anderer Satz, an dem das, was in Klammern gesetzt ist, mindestens ebenso wichtig ist wie das, was außerhalb der Klammern steht: "Die Fiktion muss pausieren (und wirkt hinterrücks natürlich fort)." Und damit kommen wir zum zweiten Grund, weshalb die Knausgård-Bemerkung stutzig macht. Denn so wenig es für die Frage nach guter oder schlechter Literatur eine Rolle spielt, ob eine Geschichte wahr oder erfunden ist, so sehr zieht das derzeit wirkmächtigste Genre der Literatur, das Memoir, seine Kraft aus der Voraussetzung, dass es authentisch ist, lebensgeschichtlich beglaubigt, dass das Ich, das hier spricht, aus eigenen Wunden blutet. Das Problem dabei ist nur, dass das Leben der Redeweise zum Trotz keine Geschichten schreibt. Denn sobald es in Sprache gefasst wird, verwandelt es sich. Die beste Lüge der Literatur bestand schon immer darin, die Wahrheit zu versprechen.

Für den Maniker hängt alles mit allem zusammen, der Kopf spielt Roulette

Der 1975 geborene Schriftsteller Thomas Melle ist natürlich viel zu klug, zu theoriefreudig auch und sprachphilosophisch gebildet, um sich dieses Dilemmas nicht bewusst zu sein. Es ist nachvollziehbar, warum die Jury für den Deutschen Buchpreis sein Buch auf ihre Shortlist gewählt hat, obwohl es, anders als "3000 Euro", der Titel, mit dem Melle bereits vor zwei Jahren nominiert war, kein Roman ist und damit das Kardinalkriterium der Auszeichnung nicht erfüllt. Die innere Notwendigkeit jedoch, aus der heraus Thomas Melle dieses Buch geschrieben hat, ist eine doppelte. "Die Welt im Rücken" handelt von seiner psychischen Erkrankung, unter deren schwerster Ausprägung "Bipolar I" er leidet, manchmal wird diese Variante auch als "nuklear" bezeichnet.

Einiges davon hat Melle bereits in seine bisherigen Bücher einfließen lassen, aber literarisch camoufliert und an "Doppel- und Wiedergänger" seiner selbst outgesourct. An das neue Buch ist auch die Hoffnung geknüpft, sich des untergründig stets mitlaufenden biografischen Themas zu entledigen, auf dass künftige Bücher freier sein mögen und breiter im Spektrum.

Die andere Notwendigkeit ergibt sich also daraus, dass Thomas Melle Schriftsteller ist und Schreiben für einen Schriftsteller zugleich Lebensvollzug bedeutet. Dieser "Anti-Bildungsroman" hat daher mehr von einem Selbstversuch als von einem Krankheitsbericht. Reiz und Risiko liegen hier nahe beieinander. "Die Welt im Rücken" unterscheidet sich ja von den Büchern, die andere über ihre Krankheit geschrieben haben wie David Wagner über seine Autoimmunhepatitis oder Christoph Schlingensief über den Krebs. Hier geht es um eine Krankheit, die den Kern der Persönlichkeit korrumpiert, um einen Hacker-Angriff auf das Selbst.

Für den Autor wie für den Leser folgen daraus einige beunruhigende Fragen: Wer zum Beispiel ist eigentlich das Ich, das die Bücher von Thomas Melle, die Romane "Sickster" (2011) und "3000 Euro" (2014) sowie den Erzählungsband "Raumforderung" (2007) und vor allem das vorliegende Buch geschrieben hat, das gesunde oder das kranke? Und wie kann man zwischen beiden überhaupt unterscheiden? Da seine Manie für den Maniker unhintergehbar ist, wäre jede Selbstdiagnose nur wieder Teil der Symptomatik. Und wie wirken sich Krankheit und ihre Behandlung auf die Sprache aus? Die Medikamente, die ihn ruhigstellen, kappen die Spitzen der Affekte, schreibt Melle, dimmen das Erleben ab und hindern die Worte daran, Amok zu laufen. Einmal vergleicht er die PET-Scan-Bilder seines Gehirns mit CNN-Übertragungen aus Kriegsgebieten, überall Bombeneinschläge in Rot, Gelb und Knallorange.

Die alte Vermutung, es gäbe einen inneren Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn, lehnt Thomas Melle ab. All die bequemen Angebote, die Krankheit umzudeuten und zu überhöhen, sie wahlweise zu romantisieren oder zu dämonisieren, schlägt er aus. Auf die sinkende Akzeptanz gegenüber seelischen Erkrankungen seit der Germanwings-Katastrophe aufmerksam zu machen, hierin liegt das gesellschaftliche Anliegen des Buches. Nach einer Phase der Enttabuisierung, die auf das Outing von Sebastian Deisler und den Selbstmord Robert Enkes folgte, sei das Thema heute wieder negativ besetzt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema