Serie "Welt im Fieber": Japan:Bin ich die Einzige, die das Wort Selbstbeschränkung falsch versteht?

A man wearing a protective face mask is seen under a traffic sign as the spread of the coronavirus disease (COVID-19) continues in Tokyo, Japan

Die Regeln im Zuge der Corona-Krise sind dabei, sich ständig zu verändern. Hier eine Szene in Tokio.

(Foto: REUTERS)

In Japan kontrolliert die sogenannte "Selbstbeschränkungspolizei" derzeit Nummernschilder und drangsaliert Restaurantbesitzer. Im Gegenzug wird sie selbst bedroht.

Gastbeitrag von Sayaka Murata

Den ganzen Tag über führe ich Selbstgespräche, nur wenn ich online mit Freunden spreche, habe ich das Gefühl, in Kontakt mit der Welt zu stehen. Auf dem Computerbildschirm sind meine Freunde flach, sodass ich unsicher bin, wie sie dreidimensional ausgesehen haben, wie groß sie sind und wie sie riechen.

Als ich mich online mit einer Freundin unterhielt, erzählte sie mir, bei Freunden von ihr sei die Selbstbeschränkungspolizei gewesen. Die Freunde haben ein Restaurant und hatten, um ihr Lokal entsprechend der Forderung nach Selbstbeschränkung zu schließen, restliche Lebensmittel verarbeitet. So sei irrtümlich der Eindruck entstanden, sie hätten geöffnet, und jemand habe einen Zettel mit der Aufschrift "Mörder" an die Tür geklebt.

Der Gedanke an solche seltsamen, plötzlich entstehenden Wortschöpfungen wie "Selbstbeschränkungspolizei" bedrückt mich. Offenbar werden zahlreiche Geschäfte und Lokale von diesen Leuten drangsaliert. Darüber hinaus sind noch weitere abwegige Schlagwörter in Umlauf gekommen. Betrüblich sind Berichte über die sogenannte Jagd auf Nummernschilder anderer Präfekturen, bei der nicht-einheimische Fahrzeuge aufgespürt werden. Man möchte es für einen schlechten Scherz halten. Doch neuerdings gibt es sogar den Begriff der "Jagd auf die Selbstbeschränkungspolizei", und "Selbstbeschränkungspolizisten" werden im Internet übelst beschimpft. All das kommt mir vor wie in einer absurden Kurzgeschichte mit viel schwarzem Humor.

Ich bin es leid, mich täglich auf dem Laufenden halten zu müssen. Beispielsweise habe ich mich in der Annahme, dies gehöre zum guten Ton, stets möglichst höflich bedankt, wenn ein Kurier mir berufliche Unterlagen zustellte. Jetzt wird darum gebeten, Pakete vor der Tür ablegen zu dürfen und eine Maske zu tragen, falls eine Unterschrift unbedingt erforderlich sein sollte. Selbstverständlich beherzige ich diesen Aufruf der Kurierdienste, weiß aber nicht, ob die Information wirklich "richtig" ist. Heute glaube ich noch daran, dass die aktuelle Form des "Anstands" Menschen in Risikoberufen ihre Ängste nimmt, doch vielleicht erreicht mich schon morgen eine neue Information, die mich meinen Begriff von "Anstand" revidieren lässt. Wenn ich darüber nachdenke, hatte das Wort "Selbstbeschränkung" von Anfang an für jeden eine andere Bedeutung und bleibt verschwommen.

"Bin ich die Einzige, die das Wort Selbstbeschränkung falsch versteht?", schrieb ich in meiner Verunsicherung an Freunde. "Murata-san, du übertreibst!", antworteten manche, während andere mich zu größerer Vorsicht ermahnten. Was mich noch mehr verwirrte. Einst gab es in meinem Leben eine Menge unsichtbare Richtlinien, die jetzt nicht mehr zu gebrauchen sind. Die Veränderungen werfen mich aus der Bahn. Und zugleich erinnern sie mich daran, wie zerbrechlich die Strukturen sind, auf die ich bisher gesetzt habe.

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

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