Süddeutsche Zeitung

"Die Wache" im Kino:Verhör ohne Wiederkehr

Kafkaesk: Quentin Dupieux' Film "Die Wache" erschafft eine Fantasiewelt, aus der es kein Entkommen gibt.

Von Philipp Stadelmaier

Zu Anfang betritt ein Mann, der in nichts als einer roten Unterhose steckt, eine Wiese und beginnt zu dirigieren. Vor ihm befindet sich tatsächlich ein Orchester, dessen Mitglieder herausgeputzt sind und brav mitspielen. In der Wirklichkeit, in die wir hier eintauchen, scheint es nichts Normaleres zu geben. Selbst die Polizisten, die bald angerannt kommen, um den Mann festzunehmen, kümmern sich nicht um das Orchester. Weswegen der Mann polizeilich gesucht wird, muss also weder etwas mit der Erregung öffentlichen Ärgernisses zu tun haben noch mit illegalem Dirigieren. Vielleicht ist er in einen anderen Fall verwickelt. Genaueres erfährt man nicht.

In Quentin Dupieux' "Die Wache" gehorcht die Wirklichkeit absurden Gesetzen. Wie Yann Gonzalez oder Bertrand Mandico gehört Dupieux zu einer jüngeren Generation französischer Autorenfilmer, die sich ganz und gar in ihren Fantasiereichen eingerichtet haben. In diesem Dupieux-Film von 2018, der jetzt erst in die deutschen Kinos kommt (aktuell arbeitet er bereits an seinem übernächsten Werk), ist dieses Reich eine Polizeiwache. Hierher bringen die Polizisten den Mann in Unterhose, bevor er verschwindet, und wir in ein anderes Zimmer gelangen. Eine Polizeiwache ist ein Ort, an dem Ermittlungen angestellt werden, doch das Büro von Kommissar Buron (Benoît Poelvoorde) funktioniert eher wie der Teil eines angeregt vor sich hin ratternden Gehirns, das ermittelt und Fälle analysiert, ohne zu nennenswerten Resultaten zu kommen.

Buron gegenüber sitzt ein gewisser Monsieur Fugain (Grégoire Ludig), der vor ein paar Tagen nachts eine Leiche auf der Straße vor seinem Wohnhaus gefunden hat. Der Kommissar hat da noch ein paar Fragen: Was genau hatte er mit dem Toten zu tun? Und warum ist er sieben Mal zwischen seiner Wohnung und der Straße rauf- und runtergegangen?

Die Zeit ist angehalten, alle sind gefangen in einem ewigen, absurden Moment

Es ist Abend und Fugain würde gerne nur endlich nach Hause, er hat Hunger. Aber er wird sich gedulden müssen: Ein nächtliches Verhör ist angesagt. Die Polizeiwache ist ein Ort, den der kammerspielartige Film und die Figuren nicht verlassen können - ebenso, wie das Ermitteln immer weitergeht. Überhaupt scheint die Zeit einfach angehalten, gefangen zu sein in einem ewigen, absurden Moment. Der Kommissar tippt das Protokoll auf einer Schreibmaschine, die Einrichtung sieht nach siebziger, achtziger Jahren aus. Trotzdem sind wir in der Gegenwart: Man zahlt in Euro, es gibt Internet.

Auch in Fugains Erzählung geraten die Zeiten durcheinander. In Rückblenden rekapituliert er die Nacht, in der er den Toten entdeckte, aber wenn er vom Kommissar nach Uhrzeiten gefragt wird, sieht er in seiner Erinnerung nur Anzeigen, die hin- und herspringen, als hätte das Verhör einen direkten Einfluss auf sein Gedächtnis. Diesen Effekt treibt Dupieux weiter, indem sich auch der Kommissar und andere Figuren aus der Polizeiwache in Fugains Gedächtnis einnisten, ihn beobachten und Ratschläge geben. Auch, wenn sich der Kommissar und der Zeuge Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen, sehen nicht nur wir diese in Rückblenden, sondern auch die beiden Figuren scheinen sich gegenseitig beobachten und kontrollieren zu können.

So sind die ersten Zuschauer des Films "Die Wache" die Figuren selbst, und so kann sich Buron darüber echauffieren, dass die Geschichte, die ihm Fugain erzählt, ihn doch recht langweile. Die Pointe am Ende des Films steht ganz im Zeichen dieses Schachtelspiels, das niemals darauf ausgelegt ist, den Fall aufzulösen und irgendeine tiefere Wahrheit zu Tage zu fördern. Schon in seinem früheren Film "Réalité /Wirklichkeit") in dem es um einen Filmemacher ging, enthielt eine enigmatische Videokassette keineswegs den Schlüssel zu einer mysteriösen Parallelwelt, wie etwa in David Lynchs "Lost Highway", sondern schlicht und ergreifend - Dupieux' Film "Réalité" selbst. Wirklichkeit, das ist bei Dupieux eine reine Oberfläche, die für die Figuren komplett einsehbar ist, aber auf der sie permanent ausrutschen.

In der "Wache" weht über diese rutschige Oberfläche ein Hauch von Kafka und Hitchcock. Fugain wird, davon sind wird überzeugt, zu Unrecht verdächtigt. Bis ein vertrottelter Polizist namens Philippe auftaucht, der nur noch ein Auge hat. Mit diesem hat er den Verdächtigen zu beobachten, bis der Kommissar von seiner Essenspause zurück ist. In der Zwischenzeit kriegt er es hin, über eine geöffnete Schublade zu stolpern und sich dabei ein Geodreieck aus Metall ins gesunde Auge zu rammen, tief ins Gehirn. Fugain versteckt Philippes Leiche in einem Schrank. In diesem Moment wird aus dem falschen Verdächtigen ein richtiger. Doch was sagt das über die Polizei? Sie sieht so viel Gewalt, dass diese irgendwann wirklich eintritt. Was ein Filmemacher tun kann: diese wahnsinnige Maschinerie im Auge zu behalten.

Au poste!, Frankreich, Belgien, 2018 - Regie, Buch, Kamera: Quentin Dupieux. Mit Benoît Poelvoorde, Grégoire Ludig, Marc Fraize. Little Dream/24 Bilder, 73 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 16.12.2019
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