Die Vorläufer:Musik für Taube

Lesezeit: 4 Min.

1919 malte Marcel Duchamp Mona Lisa einen Bart. 30 Jahre zuvor hatte Eugène Bataille ihr eine Pfeife gemalt ("Le rire", auch bekannt als "La Joconde fumant la pipe"). (Foto: Eugène Bataille/oh)

Die Pariser Künstlergruppe "Les Incohérents" machte Dada, drei Jahrzehnte bevor Dada erfunden war. Heute ist sie weitgehend vergessen.

Von Astrid Mania

Das Timing war beinahe zu gut, um wahr zu sein. Als die Moskauer Tretjakow-Galerie im vergangenen Jahr mit dem Befund überraschte, dass sich unter Kasimir Malewitschs Bild "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" (1915) zwei weitere Gemälde und eine Inschrift verbergen, passte dies zeitlich perfekt zu gleich zwei Jubiläen. Das eine ist naheliegend: Diese Ikone der Moderne entstand 1915, vor hundert Jahren. Doch auch das hundertste Jubiläum des Zürcher Cabarets Voltaire und mit ihm der Künstlerbewegung Dada hat einen starken Bezug zu der Inschrift auf Malewitschs Leinwand. Obwohl diese Verbindungslinie seit Langem bekannt ist, wird sie, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

Jener kryptische Satz, der sich unter dem Gemälde zeigte und der politisch korrekt mit "Schlacht von Schwarzen in einer dunklen Höhle" übersetzt wird, verweist, so benennt es auch die Tretjakow-Galerie, auf eine Arbeit des französischen Wortkünstlers Alphonse Allais (1854-1905). Allais zählt zu den sogenannten Prädadaisten, die Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Pariser Montmartre zum Angriff auf Langeweile, Heuchelei und konventionelle Kunst geblasen hatten.

Sie nagelten alte Schuhe auf die Leinwand, bemalten Küchengeräte und schufen Skulpturen aus Käse

Schon ihr Motto lautete: Épater la bourgeoisie! Im Klima der Dritten Republik, nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und dem Ende der Pariser Kommune war für viele Künstler entfesselter Humor ein Ausdruck von Freiheit. Es gediehen Cabarets und Künstlergruppen, fanden organisierte Diners statt, die nach heutigem Verständnis Performance-Charakter hatten - und eben stark auf Dada vorauswiesen.

Im Jahr 1882 fand eine Ausstellung statt, die Vertreter der bildenden und darstellenden Künste vereinte, unter ihnen auch Alphonse Allais. Sie sollte zum Namensgeber der "Incohérents" werden. Dem erstaunten Publikum boten sich erstaunliche Werke, darunter ein "Gemälde" von Ferdinandus (Fernand Avenet), der einen abgetragenen Schuh auf eine Leinwand genagelt hatte. Aber auch allerlei Küchengerät wurde zu Kunst verwandelt, sogar eine Skulptur aus Käse wird im Katalog erwähnt.

Unter den Exponaten befand sich auch eine Arbeit von Paul Bilhaud (1854-1933), die als erstes monochromes Gemälde der Kunstgeschichte gilt: ein schwarzes Rechteck mit der Schrift: "Combat de Nègres dans une cave, pendant la Nuit", das Allais wenig später schlichtweg appropriierte. Eigentlich ist Bilhaud der Ahnherr des Malewitsch'schen Schwarz und der intelligent-absurden Verdrehung von Bild und Sprache im Dienste der Mimesis. Allais aber dehnte den monochromen Bildwitz, wie Raphael Rosenberg es nennt, auf sechs weitere Farben aus und veröffentlichte diese 1897 in seinem "Album Primo-Avrilesque", gemeinsam mit einem "Trauermarsch, komponiert für das Begräbnis eines großen tauben Mannes", der aus leeren Notenzeilen besteht.

All dies gehört zu einem spannenden und vergnüglichen Kapitel in der Geschichte moderner Kunst, auch wenn es sein Dasein überwiegend als Fußnote fristet. Museum und Kunstmarkt sind sich einig in ihrem Desinteresse für die Hervorbringungen dieser intelligenten Bürgerschrecke - und bestärken sich darin gegenseitig. Nun ist es für Künstler-Plakate, Buchstabengedichte, Grafiken oder Künstlerbücher grundsätzlich schwer, sich neben Leinwänden zu behaupten. Erweckt die Kunstgeschichte bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein doch den Eindruck, sie bestünde ausschließlich aus einer sich ständig befruchtenden Abfolge von Gemälden. Sammler und Kunstspekulanten haben Malerei ohnehin am liebsten.

Es überrascht nicht, dass sich der Kunstmarkt von Anfang an wenig für die eher ephemeren, oft als literarisch empfundenen Werke der Prädadaisten begeistert hat. Dabei waren sie so nahe dran. Denn die Zeit des Fin de Siècle ist auch die Epoche der großen Kunsthändler vom Schlage eines Paul Durand-Ruel oder Ambroise Vollard. Und ausgerechnet sie haben unser Bild von der Kunst des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt: Durand-Ruel verhalf den Impressionisten zum Durchbruch, Vollard war Förderer von Cézanne, Van Gogh, Picasso und anderen.

Vollard war aber auch ein großer Freund der Grafik und vor allem des Künstlerbuchs. Mit Alfred Jarry, dem Schöpfer jenes karnevalesken und proto-dadadistischen Marionetten-Theaterstücks "Ubu Roi" (1896 uraufgeführt), war er gut bekannt. Vollard verlegte sogar mehrere Textausgaben des "Ubu Roi", die Pierre Bonnard illustrierte. Vollard, Jarry, die "Incohérents" - sie alle kannten sich, sie alle frequentierten dieselben Cafés und Cabarets, doch in die Sammlungen zogen ihre Malerkollegen, in die Annalen der Kunstgeschichte ihre Nachfolgergeneration.

Auf dem Kunstmarkt sind die Prädadaisten bis heute kaum präsent. Bei den großen internationalen Auktionshäusern tauchen Lose von Alphonse Allais oder Eugène Bataille (auch nicht unter seinem Pseudonym Arthur Sapeck) erst gar nicht auf. In Frankreich werden vereinzelte Werke der Montmartre-Künstler angeboten. Speziell Allais, der sich im Nachbarland als humoristischer Geschichtenerzähler großer Beliebtheit erfreut, kommt hier und da unter den Hammer. Im Pariser Auktionshaus Alde, das sich auf Bücher und Autografen spezialisiert hat, wurde 2015 beispielsweise eine Handschrift von Allais für 400 Euro zugeschlagen. Sammelbände aus der Zeit um 1900 sind noch günstiger zu erwerben.

Ob die Entdeckung der Inschrift auf Malewitschs Gemälde nun endlich zu einer größeren Sichtbarkeit der Prädadaisten führen wird, bleibt abzuwarten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist längst erfolgt. Das Zimmerli Art Museum in New Jersey verfügt über ein großes Konvolut von Editionen, Grafiken, Notenblättern, Plakaten aus jenem Kreis. 1996 schickte es einen ausgewählten Teil seiner Sammlung unter dem Titel "The Spirit of Montmartre" auf eine kleine Tour durch die USA, begleitet von einem reich bebilderten Katalog samt faktenreichen Essays.

In Europa wurde die Schau damals nicht gezeigt. Vielleicht ist das Dada-Jubiläum der richtige Zeitpunkt, die vielen Stränge in der Kunstgeschichte zusammenzuführen. Schließlich prangt auf dem Cover des Katalogs Eugène Batailles Illustration "Mona Lisa mit Pfeife" (1887), die gemeinhin als Vorbild zu Marcel Duchamps schnauzbärtiger Fassung der berühmten Florentinerin gilt. Mit den "Incohérents" als gemeinsamen Ahnherren werden aus Malewitsch und Duchamp nun nahe Verwandte.

© SZ vom 06.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: