Süddeutsche Zeitung

"Die Unsichtbare" im Kino:Sex ist wie Kuchen essen

Wenn einem Aschenputtel die Diva-Rolle zuteil wird. In Christian Schwochows "Unsichtbare" lockt ein charismatischer Theater-Regisseur eine Nachwuchsschauspielerin aus ihrer Verhuschtheit heraus und lässt sie all ihre verborgenen Impulse und Sehnsüchte entdecken.

Rainer Gansera

Geschichten vom Aufblühen, Sichentfalten, vom Reifen und Schönwerden. Ein Lieblingsmotiv der Märchen: das hässliche Entlein verwandelt sich in den schönen Schwan, der Prinz holt Aschenputtel aus dem Dunkel des Küchendienstes ins Licht des Ballsaales, ein Kuss befreit Dornröschen aus ihrer Erstarrung. Immer ist Liebe die verwandelnde und erlösende Kraft.

In unserer Welt der Medien- und Therapie-Gesellschaft streben alle ins Licht der Show-Scheinwerfer. Nicht mehr die Liebe erlöst, sondern es geht um Aufmerksamkeitserregung durch Selbstentblößung, um Selbstfindung unter therapeutischer Regie.

Die Unsichtbare" erzählt eigentlich eine Aschenputtelgeschichte. Die 21-jährige Josephine (Stine Fischer Christensen), verniedlichend Fine genannt, Studentin der Schauspielkunst in Berlin, spielt im wirklichen Leben die undankbarste Magd-Rolle. Sie muss sich um ihre geistig und körperlich schwer behinderte Schwester kümmern und verkümmert selbst dabei. Von ihrer alleinerziehenden Mutter erhält sie keinerlei Zuneigung oder Aufmerksamkeit, nur genervte Anweisungen.

Irgendwie hat sie es geschafft, an der Theaterakademie aufgenommen zu werden, aber sie schleppt sich müde durch die Übungen. Das Urteil ihres Lehrers fällt vernichtend aus: "Ob du schläfst oder spielst macht überhaupt keinen Unterschied, Mädchen, man sieht dich einfach nicht!" Fine: die Unsichtbare.

Plötzlich wird ihr die Diva-Rolle zuteil. Der charismatische Regisseur Kaspar Friedmann (Ulrich Noethen) will seine neue Inszenierung nur mit Studenten besetzen und wählt Fine für die Titelrolle der Camille. Allseits größte Verblüffung (und Konkurrenzneid), denn der Kontrast von Darstellerin und Figur könnte nicht krasser sein. Hier die unsichtbare Fine, dort die Camille-Figur: eine junge Frau, die sich nach bitteren Erfahrungen von Demütigung, Vergewaltigung und Suizidversuch in einen männermordenden Vamp verwandelt hat.

Nach dem Black-Swan-Szenario

Fine soll und will tief in ihre Rolle eintauchen. Method acting auf die Spitze getrieben. Nachts schminkt sie sich die Lippen knallrot, stülpt eine Baby-Doll-Perücke über und erprobt Camille-Dialoge an ihrem Nachbarn, einem hemdsärmeligen, netten Ingenieur (Tunnelbauer!): "Sex ist für mich wie Kuchenessen. Ich esse und esse und kann nicht genug davon bekommen!" Zwischen Friedmann und Fine entwickelt sich ein abgründiger Pas-de-deux nach dem Black-Swan-Szenario.

Verführung und Manipulation versus Selbstentblößung bis an die Grenzen der Selbstzerstörung. Wunderbar, wie Noethen den Regie-Tyrannen zum Faszinosum macht, wie er das Mephistohafte aufblitzen lässt und das Genie-Gehabe aus Selbstmitleid und zynischer Provokation mixt. Dass er Fine zu seiner Marionette machen will, ist freilich nicht die ganze Wahrheit.

Tatsächlich lockt er sie aus ihrer Verhuschtheit heraus und lässt sie all ihre verborgenen Impulse und Sehnsüchte entdecken. Auch wenn die Story da bisweilen ins Plakative rutscht - bei einem Film, der derart von darstellerischen Intensitäten lebt, fällt das nicht weiter ins Gewicht.

Stine Fischer Christensen prägt ihre Fine grandios zur exemplarischen Gestalt aus. Allein schon ihr dänischer Akzent verleiht jedem Wort eine Aura aus Mysterium und Kostbarkeit. Fine geht, wie verlangt, "bis zum Äußersten", taumelt über die Probebühne und schlägt sich den Kopf blutig. Und Friedmann ruft begeistert: "Klasse!"

DIE UNSICHTBARE, D 2011 - Regie: Christian Schwochow. Buch: Heide und Christian Schwochow. Mit: Stine Fischer Christensen, Ulrich Noethen, Dagmar Manzel, Christina Drechsler, Ronald Zehrfeld, Anna Maria Mühe, Ulrich Matthes, Gudrun Landgrebe, Corinna Harfouch. Falcom Media, 113 Minuten.

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SZ vom 09.02.2012/pak
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