Süddeutsche Zeitung

"Die Unendlichkeit" von Tocotronic:"Tocotronic" wollen nicht mehr klug sein

Lesezeit: 4 Min.

Raus aus dem Intellektuellen-Pop - als ob die Band von Sänger Dirk Von Lowtzow das einfach könnte. Ist das neue Album ein großer Verrat?

Von Jens-Christian Rabe

Das neue, zwölfte Tocotronic-Album "Die Unendlichkeit" fühlt sich wie ein Verrat an. Jedenfalls wenn man die Band, die womöglich die bedeutendste ist, die dieses Land in den vergangenen 25 Jahren hervorgebracht hat, in jüngerer Vergangenheit für ihre Liebe zu theatraler Dialektik und ausgestellter Widersprüchlichkeit aller Art geschätzt hat.

Was sich anfühlt wie etwas, muss natürlich noch lange nicht dasselbe sein - keine deutsche Popband hat darüber mehr kluge Songs geschrieben als Tocotronic.

Oder ist das am Ende nur eine besonders perfide, die intellektuellste Form des Verrats? So klug zu sein, nicht mehr klug sein zu wollen?

Hm, vielleicht erst mal eins nach dem anderen, wenn's schon wieder ums Ganze geht. Das böse Wort, das Freunde wie Feinde mit der Band sofort verbinden, heißt ja: Diskurspop. Für die einen ist er das Allergrößte, also kluge, mit allen Wassern des Poststrukturalismus gewaschene Popmusik, bei der sogar eine ungelenk geschrammelte E-Gitarre nicht einfach nur eine ungelenk geschrammelte E-Gitarre ist, sondern eine sehr genaue Studie von einer ungelenk geschrammelten E-Gitarre, mindestens. Für die anderen ist Diskurspop selbstverständlich das Allerletzte, mindestens aber Unfähigkeit und eitle Pseudointellektualität, vergleichbar eigentlich nur noch mit kalter Gulaschsuppe. Gelöffelt vom Universitätsbetonflur. Mit einem angeknacksten Plastiklöffelchen. Ganz, ganz schlimm.

"Wir erfinden uns selbst als Anarchisten / Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten"

Genau genommen waren Tocotronic aber natürlich, wenn schon, immer eine Band für Kopf und Bauch. Die ersten Jahre werden von den Exegeten völlig zu Recht als Sturm-und-Drang-Phase klassifiziert, selbstironisch und clever zwar, aber mit ihrem energisch-minimalistischen Indierock, mit den vielen elegischen Parolen ("Michael Ende, du hast mein Leben zerstört"; "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein") vor allem ein großes Identifikationsangebot an die durch Überbehütung durchschnittlich verlorene junge deutsche Mittelschichtsseele.

In den Nullerjahren verfeinerten sich auf Alben wie dem unbetitelten "weißen" (2002), "Pure Vernunft darf niemals siegen" (2005) und "Kapitulation" (2007) dann die Musik und die intellektuellen Mittel, bevor mit "Schall und Wahn" (2010) anbricht, was man vielleicht die supersmarte Phase nennen könnte: "Was du auch machst / Mach es nicht selbst / Auch wenn du dir / Den Weg verstellst / (...) / Wer zu viel selber macht / Wird schließlich dumm / Ausgenommen Selbstbefriedigung".

Es ist diese Phase, und jetzt kommt wieder der Verrat ins Spiel, an die sich die Band heute im Rückblick als Sackgasse erinnert: "Nach dem vorletzten Album ,Wie wir leben wollen'", sagte Bassist Jan Müller in einem Interview, "hatte ich doch das Gefühl, dass wir in einen Turm der Abstraktion gestiegen waren, aus dem wir nicht mehr herauskamen. Ein Elfenbeinturm mit vielen kleinen Kämmerchen." Sänger und Texter Dirk von Lowtzow geht sogar so weit zu sagen, dass man sich nach dem letzten, unbetitelten "roten" Album 2015 - einem Konzeptalbum über die Liebe mit dem genialen Songgedicht "Solidarität" - entschlossen habe, sich nicht auf Dauer "im Genre des Intellektuellen- oder Diskurspop" einzurichten.

Hört man nun das neue Album, muss man sagen: Exakt das ist ihnen gelungen. "Die Unendlichkeit" ist unüberhörbar die autobiografische Wende im frühen Spätwerk (oder späten mittleren Werk) der Band. Der 1971 geborene Dirk von Lowtzow hat, nun bald auch schon Ende vierzig, sein Leben verarbeitet, von der behüteten Außenseiterkindheit und -jugend im Schwarzwald über die ersten aufregenden Jahre in Hamburg Anfang der Neunziger bis zu erwachsenen Liebes- und Verlusterfahrungen.

Zweifellos poetisch verdichtet ist das alles, man hört einen Mann, der versucht, sein Leben so exemplarisch wie möglich auszustellen, in "Electric Guitar" etwa die ersten Ausbruchsfantasien aus der Provinz: "Die Treppe runter zur Hintertür raus / Ich halte das alles hier nicht mehr aus / Ein Tagtraum im Regen und Apfelkorn / An der Bushaltestelle lungern wir rum / Wir erfinden uns selbst als Anarchisten / Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten / Erkunden uns selbst und wollen es wissen".

Zur Auffrischung von Gespräch und Dialog mit dem Publikum ist in der Kunst das autobiografisch-nostalgische Erzählen solcher Art, der Blick vor und neben den Ruhm, zurück in die Zeit, als man nur nach vorn schaute, ja traditionell der kürzeste Weg. Insbesondere, wenn das Leben und Denken des Stars ansonsten dem Leben seiner Fans längst denkbar weit entrückt ist. Und wenn man auch noch eine Stimme hat wie Dirk von Lowtzow, mit dieser zauberhaft verhangenen Präsenz, einer Art hellwachen Müdigkeit, dann geht nichts wirklich schief dabei. Es ist auch ein ganz eigenes kleines Kunststück, dass man auf dieser Platte nie den Eindruck hat, es werde die Vergangenheit verklärt aus der Verblendung heraus, die einem die Wehmut der späteren Jahre spendiert.

Und dennoch geht es auf Dauer ganz schon geradeaus heraus aus der "Schwarzwaldhölle" in "1993": "1993 war das Jahr / In dem ich nach Hamburg kam / In dem ich Kontakt aufnahm / 1993 war das Jahr / In dem ich dich zurückgelassen hab / In der Diaspora". Mussten denn wirklich alle doppelten Böden gleich so gewissenhaft wieder ausgebaut werden?

Mussten die doppelten Böden denn gleich so gewissenhaft ausgebaut werden?

In einer gewissen Spannung dazu steht diesmal allerdings die Musik, das soll nicht unterschlagen werden. Tocotronic sind eine Band, die sich ihrer spärlichen Mittel bewusst ist, sie sogar ausdrücklich pflegt und sich einer gewissen Monotonie ihrer Instrumentierung und Arrangements nie geschämt hat. "Die Unendlichkeit" ist nun jedoch das musikalisch im ersten Moment vielleicht abwechslungsreichste Werk der Band.

Um auf neue Ideen zu kommen, wurde die bislang dominierende, geschrubbte Rhythmusgitarre bei den Aufnahmen so weit wie möglich zurückgedrängt, oft zuerst Schlagzeug und Gesang aufgenommen. Und jeder Song bekam - in einem nicht allzu ausufernden Genre-Rahmen - eine Politur mit Sounds der Zeit, von der er erzählt.

Es gibt also ein paar eindrucksvolle Dub-Wolken im Titelsong "Die Unendlichkeit", federleicht verhallten Uptempo-Indiepop-Wall-of-Sound aus den Achtzigern in "Electric Guitar", Indierock-Gewitter in "Hey Du", ein Neo-Folk-Kleid für "Ich würd's dir sagen" oder denkbar knapp am ZDF-Fernsehgarten vorbeioperierte Orchesterschwaden in "Ausgerechnet du hast mich erlöst". Und doch mag all das nicht völlig ineinanderfinden bis zum Schluss, die Musikideen behalten immer etwas allzu Peter-und-der-Wolf-Haftes, bleiben nicht zuletzt deshalb meist zu illustrativ, weil irgendwann leider nicht mehr zu überhören ist, dass das Songwriting seltsam uninspiriert ist. So ist der Preis der autobiografischen Unmittelbarkeit auf diesem Album hoch. Zu hoch.

Um die beste, die unmittelbarste Musik spielen zu können, hat der eine oder andere Bluesman dem Teufel einst seine Seele verkauft. Dafür, so klug zu sein, nicht mehr klug sein zu wollen, bekommt man nur seine Kindheit im Schwarzwald zurück.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2018
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