"Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" im Kino:Meister der flüchtigen Begegnung

"Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" im Kino: Erst mal einen Kaffee trinken, der Rest wird folgen: Kim Minhee (links) und Lee Hyeyoung in "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall".

Erst mal einen Kaffee trinken, der Rest wird folgen: Kim Minhee (links) und Lee Hyeyoung in "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall".

(Foto: Grandfilm/GF)

Der geniale Südkoreaner Hong Sang-soo filmt, als sei er von jeglicher Tiefe und Schwere erlöst: "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall".

Von Philipp Stadelmaier

Vor einer Buchhandlung in einem Vorort von Seoul begegnet die Schriftstellerin der Besitzerin, einer alten Bekannten. Draußen ist es kalt, also trinken sie im Laden noch einen Kaffee. Niemand hat etwas Besonderes zu tun. Die Assistentin der Buchhändlerin setzt sich zu ihnen. Eine Spezialistin in Zeichensprache. Die Schriftstellerin (Lee Hyeyoung), die schon lange nichts mehr veröffentlicht hat, tut sehr interessiert.

Die junge Frau zeichnet einen Satz in die Luft: "Der Tag ist noch hell, aber bald dunkelt es. Lass uns spazieren gehen, solange es noch hell ist." Die Schriftstellerin wiederholt lächelnd die komplexen Gesten, wie jemand, der gerade ein neues Spiel gelernt hat, die Regeln aber noch nicht beherrscht. Danach setzt sie den Satz in die Tat um, lässt den Zeichen Taten folgen. Sie geht spazieren, solange es noch hell ist, und dabei wird sie einige weitere Begegnungen haben, aus denen eine wunderbar komische Handlung entsteht.

Eine Schriftstellerin, einige glückliche Zufälle und später ein paar Flaschen Alkohol: Mehr braucht der südkoreanische Meister Hong Sang-soo schon lange nicht mehr, um einen Film zu machen, der ebenso einfach wie komplex, zugänglich wie ambivalent ist. "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" gewann dieses Jahr den Jurypreis im Wettbewerb der Berlinale, eine weitere von zahllosen Auszeichnungen, die der zweiundsechzig Jahre alte Filmemacher auf den großen internationalen Festivals im Laufe seiner Karriere eingesammelt hat.

Seit 1996 hat Hong mehr als dreißig Filme gedreht. Zwei sind allein in diesem Jahr erschienen, neben der "Schriftstellerin" noch "Walk Up", beide entstanden in der Pandemie. Dabei variiert er stets aufs Neue die Alltäglichkeit von Situationen und die Möglichkeiten, die sich aus ihnen ergeben, was vor allem Dialoge sind, während der Minimalismus die Form bestimmt. Gefilmt wird fast immer in langen, ungeschnittenen Einstellungen. Hier ist das Bild außerdem schwarz-weiß, was die Wirklichkeit filtert und aufs Wesentliche reduziert, die Komik besonders klar und transparent werden lässt.

Seine Künstlerfiguren schaffen keine Werke. Sie sind mit Leben beschäftigt

Immer wieder sind Filmemacher die zentralen Figuren von Hongs Geschichten, Künstler und Intellektuelle, die jedoch, anders als in vielen europäischen Filmen, keineswegs künstlerisch oder intellektuell Wertvolles von sich geben oder schaffen, weil sie viel zu sehr mit etwas anderem beschäftigt sind: mit dem Leben, seinen Krisen, seinen Zufällen. Zufällig begegnet die Schriftstellerin auf ihrem Spaziergang einem weiteren früheren Bekannten, einem Regisseur (Kwon Haehyo). Der sollte einst einen Roman von ihr verfilmen, woraus nichts wurde, Investoren sprangen ab.

Nach einigem höflichem Geplänkel geht die Schriftstellerin zu expliziten Vorwürfen über: Sie ist über das gescheiterte Projekt stinksauer. Später trifft sie im Park eine junge Schauspielerin (Kim Minhee), die sich als Fan von ihr erweist. Die Schriftstellerin überredet die junge Frau, mit ihr einen Film zu machen. Dann landen die beiden wieder in der Buchhandlung, wo die Schriftstellerin eine weitere Begegnung mit ihrer Vergangenheit hat, während alle viel Alkohol trinken und noch mehr reden.

Will man die Handlungen von Hongs Filmen beschreiben oder sich an einen "Plot" erinnern, stellt man fest, dass einem, bei aller Einfachheit der Vorgänge, die Wörter unter den Fingern zerrinnen, sich das Bild vernebelt wie die Erinnerung an eine durchzechte Nacht, sich die Zusammenhänge auflösen wie blitzartige Erkenntnisse im Traum, die bald nach dem Erwachen wieder vergessen sind.

Denn niemals wird jemand bei der Arbeit oder einer konkreten Tätigkeit gefilmt, nur beim Reden (und Trinken). Und selbst dabei erfahren wir nichts über die Filme des Filmemachers oder die Bücher der Schriftstellerin. Doch je weniger wir erfahren, desto lustiger wird es. Weil sich die Figuren mit zunehmendem Schnapskonsum immer hemmungsloser einander versichern, wie sehr sie sich alle gegenseitig bewundern. Und weil sie nicht anders können, als intensiv die Frage zu diskutieren, auf die die Schriftstellerin keine Antwort geben will: Wovon genau soll ihr Film denn nun eigentlich handeln?

Wie ein vollkommen unabhängiger, autonom arbeitender Schriftsteller arbeitet mittlerweile auch Hong. Für seine Filme schreibt er das Drehbuch, führt Regie, ist sein eigener Kameramann, besorgt den Schnitt und komponiert sogar die Musik. Gedreht wird dann in kleinem Kreis mit Stammschauspielerinnen und -schauspielern, zu denen vor allem Kim Minhee gehört, mit kleinem Budget und in kurzer Zeit: Dieser große kleine Film entstand in nur zwei Wochen. Die Dialoge schreibt Hong während des Drehens, lebendig und frisch. So können wir genau verfolgen, wie das Geschehen von Szene zu Szene, Satz zu Satz auf der Leinwand gerade erfunden wird, sich Ideen und Wörter durch Assoziationen immer weiterentwickeln.

Das grundlegende, sich durch Hongs Werk ziehende Motiv ist die Begegnung zwischen Figuren, die sich wieder treffen oder neu kennenlernen. Wobei oft nicht klar ist, worum von beidem es sich handelt. In vielen seiner Filme nimmt die Handlung zeitliche Abzweigungen, ohne dass wir entscheiden können: Folgt die eine Szene auf die andere? Oder handelt es sich um eine Variation der vorherigen, eine alternative Realität?

"Die Schriftstellerin ..." ist da linearer und klassischer angelegt, und vielleicht gerade deswegen für jene, die Hongs Schaffen noch nicht kennen, ein guter Einstieg in sein Werk. In seinen Filmen zählt nur die Oberfläche, doch die Oberfläche bleibt wundervoll ambivalent. Dass ausgerechnet eine Schriftstellerin einen Film drehen will, ist ebenso naheliegend (warum nicht?) wie sonderbar (warum der Medienwechsel?). Es mag sich um Rache an dem Regisseur handeln, oder um einen Spleen. Die Wahrheit ist im Kino des genialen Südkoreaners von jeglicher Tiefe und Schwere erlöst. Das heißt nicht, dass sie abwesend ist. Sie ist überall.

So-seol-ga-ui yeong-hwa, Südkorea 2022. - Regie, Buch, Kamera, Schnitt, Musik: Hong Sang-soo. Mit Lee Hyeyoung, Kim Minhee, Kwon Haehyo. Grandfilm, 92 Minuten. Kinostart: 10. November 2022.

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