Die schlimmsten Leselücken:Bescheuerte Kanoniker?

Von wegen "most ashamed of": Briten pfeifen auf den Literaturkanon und haben noch nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei. Und welches ist Ihr ungelesenstes Buch?

Alex Rühle

Das "Ways with Words-Literaturfestival im beschaulichen Darton, Schriftsteller und Professoren diskutieren eine Woche lang über Bücher, Autoren, Einflüsse und flanieren durch die geistesgeschichtlichen Epochen mit einer Souveränität, als streiften sie durch ihre Hausbibliothek.

Die schlimmsten Leselücken: So wenig Zeit und so viele Bücher: Eine Mitarbeiterin des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar.

So wenig Zeit und so viele Bücher: Eine Mitarbeiterin des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar.

(Foto: Foto: dpa)

Da kommt ein Reporter des Daily Telegraph und stellt allen Gästen dieselbe Frage: "What's the book you're most ashamed of never having read?", zu Deutsch etwa: Was ist Ihre schlimmste Leselücke.

Alle geben bereitwillig Auskunft, "Ulysses", die Bibel, Darwin . . . Das Ganze krankt nur daran, dass die Autoren ihr Geständnis jeweils beginnen müssen mit der Formel: "Am meisten schäme ich mich dafür . . .". Meist zeigt sich nämlich, dass sie sich ganz und gar nicht schämen.

Symptomatisch Laura Thompson, die sagt, sie kenne Rushdies Romane nicht "und ich werde sie auch bestimmt nie lesen." Hat sich da generell was geändert in Sachen Bildungskanon? Oder sind die Briten einfach lockerer und haben ein weniger dräuendes kulturelles Über-Ich als andere Nationen?

Der Künstler Julius Deutschbauer richtete 2001 im Wiener Museumsquartier die "Bibliothek der ungelesenen Bücher" ein, eine Schrankwand, in die Menschen ihr jeweils "ungelesenstes Buch" stellen konnten. Sie mussten ihm dafür einige Fragen beantworten: Warum ist dieses Buch ihr ungelesenstes Buch? Wie oft haben sie es nicht gelesen?

Im Verlauf der Aktion bildete der Schrank immer genauer den Literaturkanon der Moderne ab: Fünfmal stand da "Zettels Traum", sechsmal "Das Kapital", dreimal "Der Zauberberg" und "Krieg und Frieden", wodurch schon ablesbar wird, dass auf all den Menschen, die diese Bücher abgaben, ein steinschweres Über-Ich lastete, das sie oft von der Lektüre dieser auratischen Bücher abhielt.

So sagte eine Frau über ihr ungelesenes "Kapital": "Viele meiner Freunde hatten Marx' Gesammelte Werke. Da dachte ich, ich bin wahnsinnig ungebildet und muss das auch lesen." Deutschbauer verglich die Gespräche mit einer Beichte: "Ich gebe, wenn ich den Rekorder ausschalte, die Absolution, man braucht dieses Buch nicht mehr zu lesen, man kann es bei mir abgeben."

Absolution scheint heute glücklicherweise keiner mehr zu benötigen: Der Telegraph bat seine Leser, ebenfalls kleine Geständnisse zu posten, derjenige, der die "beschämendste" Leselücke bekenne, bekomme ein Buch. Genereller Tenor der Antworten: Beschämend? Ihr seid ja dermaßen Nineties, behaltet doch Euer Buch, Ihr bescheuerten Kanoniker.

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