"Die Rättin" in Leipzig:War Grass doch ein Prophet?

Die Rättin

Während der Mensch im Weltall schreit: "Ich bin verrückt nach Leben", tanzt Rattus norvegicus zum Ende des Anthropozäns.

(Foto: Rolf Arnold)

Trash und Drama: "Die Rättin" am Schauspiel Leipzig.

Von Till Briegleb

Es ist sehr fair, dass das Schauspiel Leipzig in seinem Programmheft zur "Rättin" nicht unterschlägt, welche Reaktion das Buch von Günter Grass nach dem Erscheinen 1986 auslöste. Vor der Veröffentlichung erschien bereits eine ätzende Parodie unter dem Titel "Der Grass" in Buchform, dessen Verfasser oder Verfasserin bis heute unentdeckt ist. Das deutsche Feuilleton zerkleinerte Absicht, Form und Inhalt der 500 Seiten langen Dystopie über die Selbstzerstörung der Menschheit und deren Nachfolger als Krone der Schöpfung, Rattus norvegicus. Marcel Reich-Ranickis berühmter Totalverriss, übertitelt "Ein katastrophales Buch", in dem er den Roman "ungenießbar" fand, ist in dem Begleitheft zu Claudia Bauers Inszenierung sogar abgedruckt.

Der Autor floh vor diesen vernichtenden Urteilen schließlich nach Kalkutta, wo die beiden Völker seines Romans noch zusammen leben. Doch rückblickend betrachtet stecken in dieser kruden Fabel eine Menge Formulierungen, szenische Ideen und strukturelle Betrachtungen, die sich lesen, als stünden sie in Blogs von Extinction-Rebellion- oder Fridays-for-Future-Aktivisten. Denn in Grass' Satire auf den letzten Mann in einer Raumkapsel geht es bereits in den Achtzigern um die Unfähigkeit des "Menschengeschlechts", die Konsequenzen des hemmungslosen Weltverbrauchs zu erkennen, sowie die notwendigen Veränderungen einzuleiten. Und das liest sich dann doch eher wie ein Ausblick auf die unmittelbare Zukunft, denn als ein komplett missratener Roman aus der Zeit höchster Konsumseligkeit im Kalten Krieg.

Alle Selbstzitate von Grass werden ohne Häme geschildert - und damit völlig anders rezipiert als durch die Kritiker

Grass' defätistische Aussicht auf eine suizidale menschliche Weltordnung bietet daher erstaunlich bunten Stoff für eine Bühnen-Groteske zur entscheidungsschwachen Gegenwart, in der die Zweibeiner immer noch essen, kaufen, wohnen, reisen und hassen wollen, als gäbe es keine wissenschaftlichen Gegenargumente zu diesem Lebensstil. Und in später Anerkennung von Grass' Weitsicht haben Claudia Bauer und ihr Dramaturg Matthias Döpke eine Theaterfassung der "Rättin" erarbeitet, die abgesehen von ein paar aktualisierten Vokabeln und Verweisen auf die Einsprüche des 21. Jahrhunderts ("How dare you?") eine ziemlich getreue Zusammenfassung des Originals bietet.

Das lange Zwiegespräch des letzten Menschen mit einer Rättin, der Aufstand von Grimms Märchenfiguren gegen die deutsche Regierung wegen des Waldsterbens, die Suche nach der rettenden Sagenstadt Vineta in einer quallenverseuchten Ostsee, die Kreuzung der neuen hybriden Zukunftsrasse aus Ratten und Punks, aber auch das Auftreten vom erwachsenen Blechtrommler Oskar Matzerath oder dem Butt als Selbstzitate werden in der Inszenierung ohne Häme geschildert - und damit völlig anders rezipiert als nach dem Erscheinen des Romans durch die deutschen Kritiker.

Die Rättin

Bauer inszeniert die vielen Erzählstränge als musikalische Gruppenchoreografien mit vereinzelten Solonummern.

(Foto: Rolf Arnold)

Ein erstaunlich konditionsstarker Hauptdarsteller, der sogar auf dem Laufband noch ohne Atemverlust seine Texte sprechen kann, zeigt den störrischen letzten Menschen als Unbelehrbaren. "Wann Ladenschluss ist, bestimmen immer noch wir", schreit Tilo Krügel, der "Mann" in der Raumkapsel. Im Glauben, es gäbe noch ein "Wir" der Menschheit, redet er von Radionachrichten und Filmprojekten. "Der Mensch will sich selbst in der Not nicht ändern", erkennen demgegenüber die Resilienz-Weltmeister mit dem nackten Schwanz, die nach dem finalen Atomkrieg längst die Kontrolle auf dem verseuchten Erdball übernommen haben, mit kopfschüttelnder Resignation.

Bauer inszeniert die vielen Erzählstränge als musikalische Gruppenchoreografien mit vereinzelten Solonummern. Alles auf einer leeren Bühne mit Raumkapsel, die an die erste Mondlandefähre der Apollo-Mission erinnert - wenn auch mit Topfpflanzen gemütlich gemacht. Der Bühnenbildner Andreas Auerbach lässt ansonsten noch 20 Baumstämme auf und ab tanzen, während Vanessa Rust ein buntes Potpourri an Kinderbuch- und Festball-Kostümen auffährt, die sich aber zumindest bei den Märchenfiguren deutlich an Grass' Beschreibungen orientieren - bis hin zu übertrieben großen Brüsten.

Was bei der Lektüre des Romans so albern oder prätentiös wirkt, wird hier höchst anschlussfähig

Außerdem gibt es viele Kameraaktionen auf der Bühne, denn der letzte Mensch dreht die Revolution der Märchenfiguren gegen die Umweltzerstörung als Stummfilm für den erfolgreichen Pornoproduzenten Oskar Matzerath. Für die sehr eindrückliche Musik zitiert Hubert Wild mal das Motiv aus Spielbergs "Close Encounters of the Third Kind", den Hit "Road to Nowhere" der Talking Heads oder schneidende Opernarien. So wird aus der "Rättin" eine Weltuntergangsrevue mit hohem Unterhaltungswert. Leicht genommen und mit Witz serviert zeigt sich das, was bei der Lektüre des Romans so albern oder prätentiös wirkt, als höchst anschlussfähig zur aktuellen Cross-Culture. Trash und Drama vertragen sich beim Thema Mensch-Entsorgung eben besonders gut.

Claudia Bauers flotte Show der Nachdenklichkeit versäumt es aber nicht, die entscheidenden Sätze der Gesellschaftskritik so hervorzuheben, dass sie der Hybris des Weiter-so zu einem drohenden Klang verhelfen. Und sie zieht jene Formen der Männlichkeit ins Lächerliche, die eigentlich nichts wirklich beherrscht, außer den Glauben zu verbreiten, sie hätte alles im Griff. Der letzte Mann in seiner Raumkapsel ist in dieser Parodie der klassische Typ heutiger Politiker und Konsumenten, die alle relevanten Informationen zur Verfügung haben, nur um sie zu ignorieren. Während er im Weltall schreit: "Ich bin verrückt nach Leben", tanzt Rattus norvegicus eine neue solidarische Weltordnung zum Ende des Anthropozäns. War Grass doch ein Prophet?

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