Die Oscar-Filme:Klassisch aufgewühlt

Beim neuen Oscar gehen alle Wetten auf Zeitgeist und Aktualität, hieß es - bis die Nominierungen bekanntgegeben wurden. Bei der 83. Oscarverleihung könnte nach Jahren der Überraschungen mit "The King's Speech" die Tradition zurückkehren.

Tobias Kniebe

Ein stotternder, oft gedemütigter englischer Königssohn, der im Grunde zu scheu ist, um vor seine Untertanen zu treten; ein Land, das kurz vor seiner großen Bewährungsprobe gegen Hitler seinen Monarchen verliert und dringend eine neue Leitfigur braucht; und schließlich ein respektloser, selbsternannter Sprachtherapeut, der die beiden in letzter Sekunde, gegen jede Prophezeiung, triumphal zusammenführt. Wenn das kein klassischer, die Emotionen aufwühlender Oscarstoff ist - was dann?

Colin Firth

Klare Favoritenrolle: der Brite Colin Firth, der den sprachgehemmten King George VI. dann doch erstaunlich zurückhaltend spielt, in "The King's Speech".

(Foto: AP)

Das Problem mit "The King's Speech" und den klassischen Oscarstoffen ist allerdings, dass diese bei den Academy Awards nicht mehr so recht in Mode sind. Voriges Jahr gewann ein hartes pessimistisches Irakkriegsdrama gegen das Milliardenspektakel "Avatar". Davor siegte ein Film aus den Slums von Indien, wo dem Helden die Fäkalien schon mal bis zum Hals standen; dem wiederum ging ein Gewinner von stoischer Brutalität voraus, bei dem Menschen wie Vieh zur Strecke gebracht wurden - mit dem Bolzenschussgerät.

Alles große und wichtige Filme - nur eben nicht unbedingt in dem Sinn, wie Hollywood das noch vor zehn Jahren definiert hätte. Genaugenommen muss man zurückgehen bis ins Jahr 2002, um ein "Best Picture" ohne Tod und Brutalität und horrorfratzige Ork-Armeen zu finden - dafür aber mit schönen Kostümen und einer Botschaft, die man im Zweifelsfall erbaulich nennen könnte. Das war das brave Musical "Chicago".

Gegen aktuelle Trends

Sollte die 83. Oscarverleihung, die Sonntagnacht im Kodak Theatre im Herzen des alten Hollywood über die Bühne geht, tatsächlich mit dem Sieg von "The King's Speech" als bester Film enden - und nichts anderes prophezeien wir an dieser Stelle - , dann wäre das der Triumph eines Films, der sich gerade gegen aktuelle Trends behauptet hat. Was im Gegenzug beweist, dass die fast 6000 in der Academy versammelten Filmschaffenden, die so oft als unbeweglich und konservativ gescholten werden, sich in den letzten Jahren dann eben doch gewandelt haben.

Favorit aller Prognosen und Kritikerpreise war lange Zeit nämlich ein ganz unklassischer, um nicht zu sagen innovativer Film: "The Social Network" erzählt den Aufstieg des "Facebook"-Erfinders Mark Zuckerberg vom College-Lümmel zum Milliardär, inklusive Freundschaft, Verrat und Gerichtsdrama. Ist Hollywood hier nicht einmal ganz nah dran am Puls der Gegenwart? Muss nicht auch dringend als Durchbruch gefeiert werden, dass unglamouröse Jungs vor Computerbildschirmen endlich einmal wie Kinohelden aussehen dürfen?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wer wohl gewinnen wird - und warum.

Mächtig im Hintergrund

Ganz klar, beim neuen Oscar gehen alle Wetten auf Zeitgeist und Aktualität, hieß es - bis die Nominierungen tatsächlich bekanntgegeben wurden, und der englische Stotterer den amerikanischen Nerd mit zwölf zu acht Nominierungen überholte. Nun könnte wieder passieren, was immer dann vorkommt, wenn die Academy im Herzen zwischen Tradition und Moderne hin- und hergerissen ist: die Auszeichnung für den besten Regisseur wird zu einer Art Trostpreis umfunktioniert. Man ist also gut beraten, in dieser Kategorie auf den virtuosen David Fincher von "Social Network" zu setzen, zumal der Brite Tom Hooper, der "The King's Speech" inszeniert hat, vorher noch nie so richtig aufgefallen ist.

Wer geht denn diesmal hin?

Ignorieren muss man dabei allerdings einen dritten Kandidaten, der mit zehn Nominierungen sogar noch vor dem Facebook-Film liegt: den Western "True Grit" von den Coen-Brüdern. Hier wurden brillantes Handwerk und eine glasklare, schnörkellose Erzählhaltung gewürdigt, die den Film auch an der Kinokasse zum bisher erfolgreichsten Coen-Epos macht. Andererseits glaubt niemand so recht, dass die Brüder nach ihrem Triumph mit "No Country For Old Men", der erst drei Jahre zurückliegt, nun schon wieder dran sein könnten. Sie selbst übrigens auch nicht. "Ach Gott, wer geht denn diesmal hin?" - so fassen sie ihre Haltung zur diesjährigen Preisverleihung zusammen.

Christopher Nolan, Mastermind des achtmal nominierten Hirnverzwirblers "Inception", muss sich eher mit dem gegenteiligen Problem herumschlagen. Er ist wieder nicht für seine Regie nominiert - wie schon 2008 bei seinem von den Kritikern gefeierten, enorm erfolgreichen "Dark Knight". Bahnt sich da eine neue Verklemmung an?

Gerade die offensichtlichsten Regie-Musterknaben - enormes Talent, gewaltige Kasseneinnahmen, schnell wachsende Macht in Hollywood - werden von ihren Kollegen gern mal mit Missachtung gestraft. Das ging auch Steven Spielberg so, bis er "Schindlers Liste" gemacht hat, aber das Schema ist älter - fast so alt wie die Oscars selbst: Charlie Chaplin wurde nie für Regie nominiert, Orson Welles und Howard Hawks nur einmal, Ingmar Bergman und Ernst Lubitsch dreimal, Stanley Kubrick und Federico Fellini viermal, Hitchcock fünfmal. Einen regulären Regie-Oscar, der nicht nur Ehrenbezeugung fürs Lebenswerk war, haben sie alle nicht gewonnen.

Erstaunlich zurückhaltend

Aber was soll's - der Fokus der Massen liegt ja dann doch seit jeher auf den Stars, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Hier hat der Brite Colin Firth, der den sprachgehemmten King George VI. dann doch erstaunlich zurückhaltend spielt, in einer Performance voll tief internalisierter Qualen, inzwischen eine klare Favoritenrolle.

Erstens ist auch Stottern eine dieser leichten Behinderungen, die die Academy liebt, die schon so manchem Darsteller zum Sieg verholfen haben. Zweitens glaubt niemand, dass der erst voriges Jahr ausgezeichnete Jeff Bridges gleich noch einmal zuschlagen könnte - und drittens hat sich der junge James Franco, sehr zu Recht für das Bergsteiger-Überlebensdrama "127 Hours" nominiert, auf ganz spezielle Art aus dem Rennen geschossen: Er wird, zusammen mit Anne Hathaway, die Oscar-Show auch moderieren, was viele Wähler dann doch davon abhalten dürfte, ihn auch noch als Sieger ins Rampenlicht zu hieven.

Bei den Frauen ist die Sache schon weniger sicher - da kommt es nicht nur zum Showdown der zwei favorisierten Darstellerinnen, sondern im Grunde auch zum Kampf zweier Schauspiel-Philosophien: Natalie Portman in "Black Swan" hat all ihre noch vorhandenen Hemmungen fahrengelassen und sich bis zur Hysterie und physischen Quälerei in die Rolle einer schizophrenen Ballerina gestürzt; Annette Bening in "The Kids Are Alright" dagegen erlaubt sich nur minimale Mittel, muss innerlich geradezu versteinern - in der Rolle einer überkontrollierten Mutter, die ihre Kinder in die Freiheit des Erwachsenwerdens entlässt und gleichzeitig darunter leidet, von ihrer langjährigen Lebenspartnerin betrogen zu werden. Beide sind brillant - wir aber sehen, wie die Buchmacher in Las Vegas, eher Portman vorne.

Und wenn die Schule des flamboyanten Overacting punktet, könnte es bei den Nebendarstellern gleich so weitergehen: Da werden Christian Bale und Melissa Leo die größten Chancen eingeräumt, die beide mächtig auf die Tube drücken dürfen, in dem White-Trash-Boxerdrama "The Fighter".

Eine Figur schließlich, auf die wir uns besonders freuen, wird nur im Zuschauerraum sitzen und doch eine große Präsenz haben: der legendäre Independent-Mogul und Oscar-Drahtzieher Harvey Weinstein, dessen Firma es in der Vergangenheit auf nicht weniger als 249 Nominierungen und 86 Oscars gebracht hat, inklusive dreier "Best Pictures". Für Jahre hatte er offenbar die Lust am Filmemachen verloren und war bei den Oscars nicht mehr präsent - jetzt aber ist er wieder da und wirkt mächtig im Hintergrund, unter anderem für "The King's Speech". Wenn Weinstein wirklich gewinnen will, dann gewinnt er auch, lautet die Regel aus seiner großen Zeit.

Sie könnte - Wandel hin, Zeitgeist her - immer noch wahr sein.

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