Süddeutsche Zeitung

Die Niederlande und der Holocaust:7,50 Gulden für einen Juden

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Was wussten die Niederländer von Auschwitz? Einem Historiker zufolge ziemlich viel. Der ungeheuerliche Vorwurf: Offizielle Kriegsdokumentare manipulierten Quellen, um den "Mythos des Nichtwissens" und das Bild der Holländer als Volk von Widerstandskämpfern nicht zu beschädigen.

In den Tresorräumen der früheren Dresdner Bank an der feinen Amsterdamer Herengracht lagern die Archivbestände über die Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Stadtpalast, nach dem Krieg als Feindvermögen von Holland beschlagnahmt, ist Sitz des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD). Die Mitarbeiter verstehen sich als "Wissenschaftler des Krieges", ihr Institut gilt als moralisches Gewissen des Königreichs.

Seine Auflösung, vor Jahren diskutiert, ist heute undenkbar. Im Jahr 1988 hat das Institut seinen wichtigsten Auftrag erfüllt: die Herausgabe eines gigantischen, 28 Bände umfassenden Werkes zur Geschichte des "Königreiches der Niederlande im Zweiten Weltkrieg". 22 Jahre lang hat der damalige NIOD-Direktor Loe de Jong an dem rund 16.000 Seiten umfassenden Werk geschrieben. Es wurde 2,7 Millionen Mal verkauft. Nun aber steht ein ungeheuerlicher Vorwurf im Raum: Loe de Jong soll seine Quellen zur Judenverfolgung manipuliert haben.

Hinweis von der Königin

Gestützt auf Tagebücher, Briefe, Manifeste, legale sowie illegale Presse schreibt der Historiker Ies Vuijsje in seinem Buch "Tegen beter weten in. Zelfsbedrog en ontkenning in de Nederlandse geschiedschrijving over de jodenverfolging" (Wider besseren Wissens. Selbstbetrug und Leugnung in der niederländischen Geschichtsschreibung über die Judenverfolgung), dass es bereits Ende 1942 Hinweise über den Mord an deportierten Juden gegeben habe.

De Jong aber habe diese Quellen ignoriert und nur solche benutzt, die den "Mythos des Nichtwissens" bestätigten, um das positive Bild der Holländer als Volk von Widerstandskämpfern nicht zu beschädigen. Dabei hatte Königin Beatrix vor dem israelischen Parlament schon vor elf Jahren gesagt, Landsleute, die sich für jüdische Mitbürger eingesetzt hätten, seien die "Ausnahme" gewesen.

Der Angriff auf den früheren NIOD-Chef hat eine heftige Kontroverse ausgelöst. "Der Mythos wird entzaubert", titelte De Volkskrant. Der NIOD-Historiker David Barnouw bestreitet, dass de Jong seine Quellen "selektiv benutzt habe", Vuijsje lüge, so Barnouw, dessen Buch sei "von Anfang bis Ende moralistisch und entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage." Howink ten Cate, Historiker am Amsterdamer Holocaust-Institut hingegen gab zu bedenken: "Obwohl mir die Auffassungen von Vuijsje zu weit gehen, ist jeder Beitrag zu dieser Diskussion willkommen."

Die Vernichtung des niederländischen Judentums und die Kollaboration zählen neben dem Sklavenhandel und dem Kolonialismus zu den brisantesten Kapiteln der holländischen Geschichte. Eine umfassende Vergangenheitsbewältigung wie in Deutschland hat es in Holland nie gegeben. Und so bleibt es eine der Schlüsselfragen, warum die Niederlande bereits 1943 offiziell für "judenrein" erklärt wurden. 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung starben in den Vernichtungslagern. In Belgien waren es 40 Prozent, in Frankreich 25 Prozent.

Vuijsje war im NIOD-Archiv auf Quellen gestoßen, dass schon Ende 1942 hinreichend bekannt gewesen war, dass die Juden nicht in Arbeits-, sondern in Vernichtungslager geschickt wurden. Sowohl der niederländischen Exilregierung als auch Loe de Jong, der ebenfalls im Londoner Exil lebte, haben Informationen zum Holocaust vorgelegen, so Vuisje, aber beide haben diese nicht zur Rettung der Juden genutzt.

Transporte nach Fahrplan

Die Ursachen für die katastrophale Deportationsbilanz, so Vuijsje, seien Gleichgültigkeit und Autoritätsgläubigkeit, eine Polizei, die mit den Besatzern kooperierte, aber auch die Ansicht, dass es mit den Lagern ja nicht so schlimm sein könne. Hinzu kam, dass sich Niederländer professionell an der Jagd nach versteckten Juden beteiligten.

Es wurde, und das war einmalig in Europa, ein Kopfgeld von 7,50 Gulden (etwa 37 Euro) für jeden aufgespürten Juden gezahlt. Auch Anne Frank wurde für Geld denunziert. Die holländische Bahn transportierte die Juden am helllichten Tag ab, nach Fahrplan, ohne Sabotage. Von den etwa 107.000 deportierten Juden - jüdischen Niederländern und Flüchtlingen aus Deutschland oder Österreich - kehrten nur etwa 5000 zurück. Nur in Polen lag die Zahl der jüdischen Opfer höher.

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Quelle:
SZ vom 3. Mai 2006
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