Süddeutsche Zeitung

Phänomen "Public Shaming":Die Macht der öffentlichen Schande

Sind Online-Pranger ein geeignetes Mittel, um Übeltäter zu disziplinieren? Ja, findet Jennifer Jacquet. Die Internetaktivistin setzt auf öffentliche Beschämung als Strafe.

Von Johan Schloemann

Groß war die Aufregung vor ein paar Tagen: In Deutschland wurde bekannt, dass die Schweiz die Namen von Steuerhinterziehern im Internet öffentlich macht. Wie sich dann herausstellte, machen das die Schweizer Behörden schon seit einigen Jahren. Und dabei handelt es sich weniger um einen "Online-Pranger" als um einen etwas kuriosen Versuch, mit Verdächtigen Kontakt aufzunehmen und ihnen rechtliches Gehör zu verschaffen.

Und dennoch hängt in Zeiten von gesteigerter Transparenz und zugleich unkontrollierbarer Überwachung ein eigentümliches Gefühl in der Luft: Übeltäter stehen unter der Drohung, öffentlich beschämt zu werden.

"Scham wird zukünftig eine große Rolle spielen"

Der Bundesstaat Kalifornien publiziert seit 2007 im Netz eine Liste der 500 dicksten Fische, die es im Vorjahr versäumt haben, ihre Steuern zu zahlen - Unternehmen wie Privatpersonen. Das findet die amerikanische Umweltforscherin und Internetaktivistin Jennifer Jacquet ganz gut. Sie hat nun das einschlägige Buch "Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls" veröffentlicht. "Dieses neue Weltzeitalter", ist die Autorin überzeugt, "braucht neue Regeln, und bei deren Durchsetzung wird die Scham eine große Rolle spielen."

In den USA gibt es allerdings auch Richter, die Delinquenten dazu verurteilen, ein T-Shirt zu tragen, auf welches die inkriminierte Tat gedruckt ist. In Ohio musste sich eine Frau mit einem Schild auf die Straße stellen, auf dem stand: "Nur Idioten kommen auf die Idee, mit dem Auto auf den Bürgersteig zu fahren, um einem Schulbus auszuweichen."

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Solche Schamstrafen, die man aus der voraufklärerischen Justiz kennt, findet auch Jennifer Jacquet nicht in Ordnung. Die öffentliche Beschämung sei, selbst wenn sie präventiven Zwecken dient, ein "empfindliches und manchmal gefährliches Werkzeug", das "selektiv und wirkungsvoll einzusetzen" sei. Die Menschenwürde, so Jacquet, müsse stets gewahrt werden sowie "das rechte Maß".

Wer bestimmt das rechte Maß?

Klingt erst einmal vernünftig. Doch wer setzt die Grenze fest, welche Formen des "Shaming" noch statthaft, welche schon inakzeptabel sind? Wie gering muss zum Beispiel die Teilnahme an Wahlen werden, bis wir es vertretbar finden, die Namen der Nichtwähler zu veröffentlichen, um so (es gibt solche Experimente) die Wahlbeteiligung wieder zu erhöhen? Und müsste über einen derartigen Bruch des Wahlgeheimnisses nicht schon wieder eine demokratische Mehrheit entscheiden? Wer also bestimmt das rechte Maß? Dies ist die zentrale Schwachstelle, die große Unklarheit, in der dieses ganze Scham-Buch leider unrettbar verfangen bleibt, obwohl es durchaus interessantes Material zur Debatte bietet.

Denn man kann ja auch den Standpunkt einnehmen, dass die "öffentliche Beschämung" prinzipiell eine klägliche Kapitulation demokratischer Politik und rechtsstaatlicher Justiz bedeutet. Zwar wohnt Gefängnis- und Geldstrafen bis heute immer noch ein Rest von öffentlicher, gemeinschaftlicher Sühne und Rüge inne - trotzdem beharrt ein liberaleres Strafrecht aus gutem Grund auf dem Schutz des Angeklagten vor Demütigung und auf der Chance zur Resozialisierung.

Zwar sind neuzeitliche Gefängnisse nicht einfach nur moderner und gerechter, sondern zugleich eine "Optimierung" von Disziplinartechniken, wenn man der Lesart von Michel Foucault folgt ("Überwachen und Strafen") - trotzdem sind Stigmata, Verbannungen, öffentliche Auspeitschungen oder Hinrichtungen in entwickelten Rechtsstaaten aus ebenso gutem Grund abgeschafft.

Ja, man könnte mit Blick auf diverse, oft vorschnelle digitale Lynchmobs - deren Risiken auch Jennifer Jacquet benennt - ebenso gut zu dem Urteil kommen: Wir brauchen nicht noch mehr öffentliche Beschämung, sondern weniger davon. Das zeigte sich zuletzt auch in Deutschland bei mehreren Prozessen gegen prominente Persönlichkeiten - Thomas Middelhoff, Uli Hoeneß, Sebastian Edathy: In unappetitlicher Weise greift nach der ersten Aufregung dann das rechtsstaatlich sehr fragwürdige Argument um sich, jemand sei durch die öffentliche Beschämung "schon genug gestraft".

Dieses "Genug gestraft" ist zwar womöglich etwas, was ein Richter in seiner Urteilsfindung berücksichtigen kann - aber nichts, worüber die Öffentlichkeit stimmungsmäßig zu richten hat.

Ein probates Mittel, wenn sich politisch oder rechtlich nichts bewegt

Jennifer Jacquet aber hält die Beschämung, zumal per Internet, immer dann für ein probates Mittel, wenn sich gegen große Schweinereien von Konzernen und Investmentbanken auf politischem oder rechtlichem Wege (noch) nichts bewegen lasse - und schon gar nicht durch Kaufentscheidungen der Verbraucher. Nur dann seien bessere Gesetze und Regulierungen zu erreichen, wenn sich der Westen wieder ein wenig von der individuellen Schuld- zurück zur kollektiven Schamkultur entwickle, heißt es in dem religions- und ideengeschichtlich sonst eher dürftigen Buch.

Man kann Jacquets Verzweiflung über untragbare Missstände sicher gut nachempfinden - was aber, wenn der Beschämte, wie jüngst Fifa-Chef Josef Blatter, sich gar nicht schämt?

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Quelle:
SZ vom 02.06.2015
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