Süddeutsche Zeitung

Die Mentalität in der Krise:Mechanik der Angst

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Das größte Problem der französischen Gesellschaft ist nicht der soziale Abstieg, sondern die Angst davor - verkündet ein Buch, das man auch hierzulande lesen sollte.

Tobias Haberkorn

Wer ständig mit dem Schlimmsten rechnet, rüstet sich für den Fall, in dem es tatsächlich einmal eintreten könnte. Bloß ist der schlimmste Fall meist auch der unwahrscheinlichste: In Frankreich macht derzeit ein Buch von sich reden, das genau diesen Zusammenhang ins Zentrum einer luziden Gesellschaftsanalyse stellt, die man auch bei uns aufmerksam lesen sollte.

Éric Maurin, Soziologe von der Pariser "École des hautes études en sciences sociales", stellt in einem schlanken Essay (La peur du déclassement - une sociologie des récessions, Seuil) eine ganze Reihe von Allgemeinplätze zur Disposition und entwirft eine widerspruchsgeladene "Soziologie der Rezessionen".

Es geht um Abstiegsängste und die Krise einer Gesellschaft, die eine besondere Sensibilität für soziale Ränge pflegt, von Maurin mit dem Begriff der "Statusgesellschaft" markiert. Das ist natürlich zunächst auf Frankreich bezogen, liegt unseren neuerlich entbrannten Debatten über Bürgerstolz und Steuerstaat aber möglicherweise gar nicht so fern. Man fühlt sich bei Maurin zunächst an Pierre Bourdieu erinnert, der nachgewiesen hat, wie sehr sich in Frankreich, zum Beispiel im republikanischen Bildungswesen, die Residuen einer Ständegesellschaft erhalten haben.

Der Autor richtet sein Augenmerk aber nicht auf die Eliten, sondern auf die Mittelschicht. Diese ist, wie man auch hierzulande immer wieder liest, seit Jahren im Erodieren begriffen. Wie viel von dieser Erosion ist aber Angstszenario und wieviel schon die gelebte Realität?

Die beiden Kategorien sind wohl kaum zu trennen, denn sie betreffen eine Psychologie der Masse, in der Vorstellungen und Ängste mindestens genauso wirkmächtig sind wie empirisch verfügbar gemachte Fakten. In Frankreich wird die Bespiegelung der nationalen Psyche mit nahezu masochistischer Leidenschaft betrieben, zumal in der Wirtschaftskrise. Ob diese nun ökonometrisch gesehen wieder abklingt oder nicht - Krise ist solange, wie man von ihr spricht, und da gibt es vorerst keine Entwarnung.

Der Generalbass von regelmäßig erscheinenden soziologischen Abhandlungen und Befindlichkeitsessays schwingt in getragenen Tönen. Die nach 1960 Geborenen erreichen den sozialen Status ihrer Eltern nicht mehr, heißt es zum Beispiel in "Le déclassement" (Grasset), einer Studie der Soziologin Camille Peugny, die im Februar das Schlagwort zur Rezession lieferte. Uni-Abschlüsse seien nichts mehr wert, der soziale Aufzug defekt, die Gesamtgesellschaft von Deklassierung bedroht. Mit nirgendwo sonst gekannter Radikalität stemmten sich einzelne Arbeitergruppen gegen Entlassungen und Umstrukturierungen in diesem Krisenjahr, das mit der Selbstmordserie bei France Télécom seinen bisherigen Tiefpunkt erreichte.

Angst regiert über Stolz

Diesem düsteren Nationalporträt, an dem auch ein sehr französischer Hang zum Deklinismus seinen Anteil haben dürfte, stellt Maurin eine verblüffende These entgegen: Das größte Problem der französischen Gesellschaft sei kein zu erwartender oder bereits eingetretener, massenhafter sozialer Abstieg, sondern die generalisierte Angst vor genau diesem Abstieg. Mit dem Schlimmsten rechnen und das Schlimmste tatsächlich erleiden ist nicht ein- und dasselbe. Ganz im Gegenteil, erklärt Maurin: Gerade diejenigen, die am effektivsten vor sozialem Abstieg geschützt sich, leiden an den größten Ängsten. Und diese noch immer recht breite Mitte der Gesellschaft löst politische Reflexe aus, die ihre Ängste paradoxerweise noch verschärfen.

Das Argument ist denkbar einfach und klingt aus der Feder eines als links geltenden Intellektuellen verdächtig nach Fahnenflucht: Frankreich schützt seine Arbeitnehmer wie kein anderes Land und verschafft ihnen damit einen Status, der so sicher ist, dass sein Verlust einer Katastrophe gleichkommt.

Denn "wegen der geringeren Wahrscheinlichkeit, wieder einen gesicherten Arbeitsplatz zu finden, ist das zu Verlierende viel wertvoller als anderswo. Je höher die Schutzmauern um einen Status, desto tödlicher der Absturz - ganz egal wie unwahrscheinlich er ist." Leidtragende sind vor allem Berufseinsteiger, Geringqualifizierte und Arbeitslose, für die die Barriere zu einer privilegierten Festanstellung immer schwerer zu überspringen ist. Lesen Sie weiter auf Seite 2 über sozialen Stolz und erniedrigte Leistungsträger.

Maurins Wort von der Statusgesellschaft bezieht sich auch, aber nicht nur, auf den hohen Kündigungsschutz im französischen Arbeitsrecht. An Bourdieu knüpft er an, wenn er eine aristokratische Mentalität kritisiert, nach der gesellschaftliche Ränge schon sehr früh und quasi auf Lebenszeit vergeben werden. "Die Erbfolge der Ämter ist mit der Revolution verschwunden, soziale Würde bleibt aber nichts desto weniger mit der Eroberung und dem Erhalt eines Status verbunden."

Familienbande stellen bei diesen gesellschaftlichen Rangkämpfen nach wie vor einen kapitalen Wettbewerbsvorteil dar. Die Republik zieht sich eine "noblesse d'état" (Bourdieu) heran, deren Habitus zwar auch Handwerkerkinder nach bestandener Aufnahmeprüfung auf einer Grande École erlernen können. Im Regelfall wird er aber schon aus dem Elternhaus dorthin mitgebracht.

Aristokratische Muster

Nicolas Sarkozy hatte seine Amt mit dem Versprechen angetreten, solche Kontinuitäten zu zerbrechen. Die wie programmiert verlaufende Karriere seines Sohnes Jean, dreiundzwanzig Jahre alt und noch nicht mal Elite -, sondern Bummelstudent im dritten Fachsemester Jura, rief eine derartige Entrüstung hervor, dass der Präsidentensohn sich am Donnerstag zum Opfer einer Desinformationskampagne erklärte und nun demonstrativ auf den Vorsitz der Epad-Gesellschaft verzichten will, die in La Défense im Westen von Paris eines der größten Geschäftsviertel Europas betreibt.

Das französische Statusdenken ist unverwüstlich und hat sich in den letzten vierzig Jahren von einer Rezession zur anderen nur verfestigt, wie Maurin in seiner statistisch unterfütterten Analyse darlegt: Der Ölschock beendete in den Siebzigern den Nachkriegsaufschwung und stellte eine Gesellschaft, deren Wohlstand auf Wachstumsraten zwischen fünf und sechs Prozent beruhte, vor völlig neue ökonomische Aufgaben. Um Massenarbeitslosigkeit und Lohndumping vorzubeugen, erhöhte der Staat den Kündigungsschutz und koppelte den gesetzlichen Mindestlohn an die Durchschnittslöhne. Diese Mechanismen sind im Prinzip bis heute unverändert, denn, so Maurin, sie schaffen eine Hierarchie von Protektionen, die von den Franzosen quer durch alle Lager vehement verteidigt wird.

Die Wirtschaftskrise von 1992/1993, zu der die derzeitige Rezession sich bislang zumindest am Arbeitsmarkt parallel verhält (wenn sie auch gefühlsmäßig viel gravierender erscheint), war die erste nach der Demokratisierung der Universitäten. Seit Beginn der achtziger Jahre hatte die sozialistische Bildungspolitik für eine Verdopplung der Absolventenzahlen gesorgt, um dem wirtschaftlichen Strukturwandel gerecht zu werden. Das funktionierte dank einer dynamischen Privatwirtschaft auch sehr gut, aber nur bis zur Krise.

Als plötzlich die Jobs für Hochschulabsolventen wackelten, kam es zu einem Ansturm ohne gleichen auf den öffentlichen Dienst. Dieser rekrutiert selbst einfache und mittlere Beamten durch "concours administratifs", Aufnahmeprüfungen, die zwar inhaltlich spezifiziert, ihrer Form nach aber dem Zentralabitur und den Aufnahmeprüfungen der Grandes Écoles nachempfunden sind (mit entsprechenden Vorteilen für deren Absolventen).

Boom der Beamten

Nach der Krise enspannte sich der Arbeitsmarkt für Akademiker wieder, aber noch 2003 schlugen mit über einem Drittel aller Absolventen viel mehr Hochqualifizierte eine Beamtenlaufbahn ein, als das System überhaupt gebrauchen kann. Die Folge ist gefühlte Deklassierung auch bei denjenigen, die sich in den begehrten concours durchsetzen. Sie landen trotz Bestnoten auf Positionen, die dem erhofften Status nicht entsprechen. Höhere Jobsicherheit bezahlen sie mit geringeren Aufstiegschancen, während im privaten Sektor, wo mehr Führungspositionen zu vergeben sind, die Abstiegsangst gedeiht.

Aus der Mechanik der Angst heraus entwickelt Maurin auch eine kohärente Lesart für andere Ereignisse wie die Ablehnung der EU-Verfassung 2005 oder die wüsten Studentenproteste im Frühjahr 2006, die erst nachließen, als die Villepin-Regierung ihre Pläne zur Aufweichung des Kündigungsschutz für Berufseinsteiger wieder beerdigt hatte. Erstaunlicherweise kämpfen gerade die Jungen für den Erhalt einer Statusgesellschaft, deren Ränge sie nur durch einen immer härteren Ausscheidungswettbewerb erreichen können, der heutzutage schon im Vorschulalter beginnt.

Maurin besitzt genügend Geistesschärfe, um Kritiker abzufangen, die in ihn seiner Schrift eine simple Apologie des angelsächsischen Modells vermuten. Weniger Protektion von Arbeitsplätzen bedeutet mitnichten automatisch eine niedrigere Arbeitslosigkeit, dazu gibt es stapelweise Forschungsliteratur. Aber - und das arbeitet Maurin mit Verve und Formulierungsgabe heraus - er verkürzt die Dauer der Arbeitslosigkeit und verringert vor allen Dingen die lähmende Angst vor Sozialabsturz. In Dänemark zum Beispiel, wo Arbeitnehmer fast gar nicht und Arbeitslose besonders vom Staat protegiert werden, gedeiht die Zuversicht.

Nun weiß auch Maurin, dass Franzosen einfach keine Dänen sind und dass internationale Vergleiche immer genau dort hinken, wo sie allzu schnell über Nationaltypisches hinweggehen. Die Fixierung auf soziale Ränge hat in Frankreich geschichtliche und kulturelle Wurzeln, aus denen die subtilsten Formen gesellschaftlicher Distinktion hervorgegangen sind und auch die bewundernswert nuancierte Analyse derselben. Das kann man nicht nur bei Bourdieu, sondern schon bei Proust und Stendhal nachlesen.

Dass gewisse aristokratische Muster die allgemeine Erosion zu überdauern scheinen, könnte zumindest diejenigen zufriedenstellen, die sich bei uns Sorgen um sozialen Stolz und erniedrigte Leistungsträger machen. In Frankreich speist sich allerdings der Zorn, den rituelle Streiks und Proteste ventilieren, weniger aus einem basisbourgeoisen Ehrgefühl denn aus einer ganz und gar nicht großmütigen Angst.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2009
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