Süddeutsche Zeitung

"Die letzten Männer von Aleppo" im Kino:Früher Zivilisten, heute Lebensretter

Die erschütternde Doku "Die letzten Männer von Aleppo" begleitet die "Weißhelme" bei ihrer lebensgefährlichen Mission in den Trümmern des syrischen Bürgerkriegs.

Filmkritik von Martina Knoben

Strahlendblau ist der Himmel über Aleppo, weit oben zieht ein Flugzeug einen Kondensstreifen hinter sich her. Es ist ein schönes Bild. "Wegen diesem Drecksack müssen wir ständig in den Himmel sehen", sagt Khaled, ein kräftiger, patenter Mann in den Dreißigern, und deutet in die Höhe: "Ein grüner Jet, russisch." Die Bewohner von Aleppo sind Flugzeug-Experten, weil Flugzeuge den Tod bringen. Russische Kampfjets werfen Fassbomben und Streubomben ab, die ganze Straßen verwüsten.

Wer wissen will, wovor die Menschen aus Syrien fliehen, sollte sich "Die letzten Männer von Aleppo" ansehen. Es ist ein erschütterndes Dokument. Über zwei Jahre hinweg begleitet der Dokumentarfilm Khaled und einige andere Mitglieder der "Weißhelme" - Bewohner von Aleppo, die vor dem Bürgerkrieg normale Berufe hatten oder studierten, sich in der umkämpften Stadt aber zum Zivilschutz meldeten. Wenn die Kampfjets ihre tödliche Fracht abwerfen oder eine Autobombe explodiert, sind die "Weißhelme" meist als Erste zur Stelle, um Verletzte und Tote zu bergen oder Leichenteile einzusammeln. Es sind lebensgefährliche Einsätze, bei denen die Helfer, die keine Waffen tragen, nicht selten selbst beschossen oder unter Trümmern begraben werden.

Was das Wort "Krieg" wirklich bedeutet, wissen in Mitteleuropa nur noch die wenigsten

Ganze Stadtviertel in Aleppo scheinen nur noch aus Skeletten von Häusern zu bestehen; überall sind Schuttberge, immer wieder durchschneiden Explosionen und Sirenen die Großstadtgeräuschkulisse. Khaled wurde in den sozialen Medien bekannt, als er ein Baby lebend bergen konnte. Oft aber ziehen er und seine Kameraden die Menschen nur noch tot aus ihren zerstörten Häusern. Oder sie müssen abgetrennte Körperteile einem Menschen zuordnen - einen Fuß in der Hand, sinniert ein "Weißhelm", ob sich der Besitzer wohl an den Zehennägeln erkennen ließe.

Was das Wort "Krieg" wirklich bedeutet, wissen in Mitteleuropa nur noch die wenigsten; und das Grauen in Syrien würden viele am liebsten verdrängen. Deshalb ist dieser Film so wichtig, der in seiner ganzen Wucht auch demonstriert, was ein Dokumentarfilm leisten kann, dass er im günstigen Fall mehr bewegt als Nachrichten oder ins Internet gestellte Handyfilmschnipsel.

Immer wieder rasen die "Weißhelme" zu einem Einsatz - und die Kamera rast mit. "Die letzten Männer von Aleppo" ist über weite Strecken im Direct-Cinema-Stil gedreht: Es gibt weder Kommentar noch Interviews, und wenn die "Weißhelme" im Einsatz sind, ist keine Zeit für sorgfältig kadrierte Bilder. Dennoch gibt es Momente der Ruhe, manche Szenen muten sogar wie inszeniert an. Beispielsweise legt Khaled in seinem Garten ein Bassin mit Goldfischen an, was beinahe surreal anmutet in der umkämpften Stadt. Ein Händler hat ihm weisgemacht, dass die Tiere essbar wären.

Das Erschütterndste ist am Ende, dass der Alltag in Aleppo weitergeht, obwohl gleichzeitig Unbegreifliches passiert. So geht einer der Helfer zu einer Hochzeit, direkt nachdem er eine Nacht lang Verschüttete ausgegraben hatte. Und als plötzlich Waffenruhe herrscht, können Khaleds Töchter wieder draußen spielen. Erst dann wird klar, dass die Kinder wohl wochen- oder gar monatelang im Haus eingesperrt waren. In einem Notarztwagen der "Weißhelme" fährt Khaled die Töchter zu einem Spielplatz, wo Volksfeststimmung herrscht, viele Familien sind zum Rutschen und Schaukeln unter freiem Himmel gekommen. Bis es heißt: "Die Jets fliegen wieder", da ist der Ausflug schnell zu Ende.

Keine Propaganda, sondern ein Hilferuf, ein Appell an die internationale Gemeinschaft

Entstanden ist der Film über zwei Jahre hinweg, als Zusammenarbeit des Aleppo Media Centers (AMC) mit dem syrischen Regisseur Feras Fayyad und dem dänischen Cutter und Co-Regisseur Steen Johannessen. Die Mitglieder des AMC sind Männern aus Aleppo, die die Zerstörung ihrer Stadt mit ihren Handykameras festhalten wollten und das Material zuerst ins Internet stellten, um der Welt zu zeigen, was in Aleppo vor sich geht.

Ihre Nähe zu den Assad-Gegnern ist nicht zu übersehen, dennoch zielt der Vorwurf der Propaganda bei diesem Film ins Leere. "Die letzten Männer von Aleppo" ist ein Hilferuf, ein Appell an die internationale Gemeinschaft, dem Töten in Syrien nicht länger zuzusehen. Um den politischen Überblick oder zumindest Erklärungsversuche, um Zusammenhänge, Hintergründe und Stellvertreteraspekte dieses Bürgerkriegs geht es im Film ausdrücklich nicht. Deshalb haben auch die Vorwürfe, dass die "Weißhelme" IS-Sympathisanten seien, im Film nichts zu suchen - sie wurden 2016 laut, als die "Weißhelme" mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden.

Der Tod kommt in Aleppo in mehrfacher Hinsicht von oben. Der Film aber zeigt die Perspektive derjenigen "unten" - die verängstigt nach Kampfjets Ausschau halten, erwägen, mit ihrer Familie in die Türkei zu fliehen, oder zu unfreiwilligen Helden werden wie Khaled und seine Kollegen. "Wo sind die Araber?", "Wo ist die Welt?", fragen die Weißhelme einmal verzweifelt - und stellvertretend für die Regisseure. Im August 2016 starb Khaled selbst bei der Bergung von Verschütteten.

Die letzten Männer von Aleppo, Dänemark/D/Syrien 2017 - Regie: Feras Fayyad. Co-Regie: Steen Johannessen. Bildgestaltung: Fadi al Halabi. Kamera: Thaer Mohammed, Mojahed Abo Aljood. Schnitt: St. Johannessen, Michael Bauer. Verleih: Rise and Shine, 104 Minuten.

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