Ewart Colver, fünfzig Jahre, Rechtsanwalt, hat mächtig zu tun, wieder auf die Beine zu kommen. Er liegt mit Milzriss, gesplittertem Becken und noch so diesem und jenem im Krankenhaus rechts der Isar, und jede Bewegung schmerzt. Colver hat ein Faible für Manschettenknöpfe aus den Dreißigern: Er setzt dem Zeitgeist den persönlichen Style entgegen. Das gilt auch für seinen Autor, der dabei manchmal Griffe und manchmal Missgriffe tut. Etwas überinstrumentiert klingt es zum Beispiel, wenn er schreibt: "Um ein Haar hätte sich ein höhnisches Grinsen auf seine Lippen gelegt, das, wie er ahnte, alles bereithielt, um in einem kurzen, unbezwingbaren Auflachen zu explodieren." Doch dann schreibt er wieder Dinge wie (es geht um verwöhnte Scheidungskinder): "Aber die Unsicherheit verletzter Seelen beseitigte man nicht, indem man ihren Besitzern beibrachte, die Welt wie eine Speisekarte zu lesen." Dieses Genre-Buch wandelt, teils mit Glück, auf dem Grat des Literarischen.
Ewart Colver in seinem Krankenhausbett hat reichlich Zeit zum Grübeln, ob es sich bei dem traumatischen Ereignis, das schuld war an seinem Zustand, bloß um einen Unfall mit Fahrerflucht gehandelt hat oder um einen gezielten Anschlag. Und es fällt ihm dabei der tote Somali auf dem Containerschiff ein, den er vor sechs Jahren als Vertreter einer Versicherungsgesellschaft in Bremerhaven inmitten eines Haufens von Bananen und Kokain gefunden hat - ob da wohl eine Verbindung besteht?
Das fragt sich auch der Leser, je länger desto mehr. Die Handlung (wenn man sie denn als solche bezeichnen will) bewegt sich in zwei parallelen Strängen, abwechselnd immer in einem geraden und einem ungeraden Kapitel. Neben Colver in München gibt es Shenja Orlov in Berlin, einen russischen Emigranten und Computerfreak mit psychischen Problemen, der ständig seine Jugendliebe Asja in Sankt Petersburg reminisziert. Schon sind drei Viertel des Buchs herum, angefüllt damit, dass Colver, obwohl noch auf einen Krückstock angewiesen, wieder anfängt, Tango zu tanzen, und Orlov sich an einer Raststätte mit seiner Freundin überwirft, die mit einem anderen Mann zu flirten scheint; und noch immer weiß man nicht, wie die beiden zusammenhängen.
Erst dann, in den schmalen Teilen zwei und drei, nimmt der Roman Fahrt auf, es gibt drei Leichen. Aber da hat das Buch seine Chance, einen Spannungsbogen zu generieren, bereits verscherzt. Die allzu gedrängte Action, die ansatzlos startet und in einen Shootout an der Tankstelle mündet (so viel darf man verraten, denn schon die Eingangsszene nimmt es vorweg), wirkt wie aufgesetzt auf die Münchner und Berliner Tableaus. Und auch so viel sei noch verraten: Die drei Plot-Elemente - Drogenschmuggel im Bananenschiff, Attentat im Münchner Straßenverkehr und die halb bis ganz kriminelle, psychotische Existenz des russischen Nerds - gelangen auch am Ende nicht zur logisch befriedigenden Bindung. Stattdessen findet sich folgende Betrachtung: "Zwei Schicksale, deren Wege sich gekreuzt hatten - ähnlich zweier Galaxien, die ineinandergestürzt waren und deren Spiralarme trotzdem immer noch viel zu weit auseinanderlagen, als dass sie aufeinander wahrnehmbaren Einfluss ausüben konnten. Für einen menschlichen Verstand war der Einfluss viel zu fein, um ihn zu fassen." Für einen Krimi ist das, mit Verlaub, unverzeihliches Geschwurbel.
Und als "Kriminalroman" ist das Buch nun mal etikettiert. Als Krimi natürlich von der Sorte, wo der Fall selbst höchstens die Hälfte der Aufmerksamkeit beansprucht und stattdessen die Ehe- und Alkoholprobleme des Ermittlers sowie ein gewisses Lokalkolorit im Vordergrund stehen. Aber auch so noch sieht sich der Leser enttäuscht. Das Buch hat ein erzählökonomisches Problem: zu lange zu wenig, dann alles auf einmal, und zum Schluss dann gar nichts.
Thomas Palzer: Die Zeit, die bleibt. Kriminalroman. Tropen Verlag, Stuttgart 2019. 251 Seiten, 20 Euro.