Die Grass-Debatte legt den Generationenkonflikt frei:Was geht's mich an, wo dieser alte Zausel im Krieg war?

Lesezeit: 4 min

Eine junge "Generation Ich" fragt angesichts der Grass-Debatte: Was regt ihr euch eigentlich so auf? Eine "Generation Flakhelfer" debattiert munter weiter - und die 68er der "Generation Joschka" werden dazwischen zerrieben.

Kurt Kister

In der Welt des Journalismus, und nicht nur dort, ist seit dem vergangenen Freitag viel Erstaunliches passiert. An jenem Freitagnachmittag nämlich berichteten die Nachrichtenagenturen, dass Günter Grass der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mitgeteilt habe, er sei als 17-Jähriger Soldat der Waffen-SS gewesen. Weil das Interview in der FAZ und nirgends anders erschien und noch dazu von Frank Schirrmacher mit geführt wurde, hat es zweierlei hervorgerufen.

Immerhin wehren sich die Alten aus ihrer Sicht in erster Linie nach unten: gegen manche 68er und vor allem gegen die geschichtslosen Hedonisten der Post-68er. (Foto: Fotos: dpa)

Zum einen, ein Nebenkriegsschauplatz, entstand unter Kulturpolitikern und Kulturinteressierten im ganzen Land wieder einmal eine Diskussion darüber, mit wem sich FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher wohl verschworen habe - diesmal nicht mit Stefan Aust oder Mathias Döpfner, aber zumindest doch mit Ulrich Wickert, auf jeden Fall dem Steidl-Verlag und vermutlich dem alten Panzerschützen selbst. Das Muster ist bekannt: Wann immer Schirrmacher etwas Öffentlichkeitswirksames tut, was der Rest nicht getan hat, liegt das an einer Verschwörung und natürlich an Schirrmachers Eitelkeit. Das glaubt man in vielen Feuilletons und auch in etlichen Büros der FAZ.

Auf dem Hauptkriegsschauplatz aber tobt die Schlacht um den Großdichter selbst. Es besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass es rational nicht zu verstehen ist, warum Grass bisher über seine Zeit als SS-Mann nicht geredet hat, wo er doch seit Jahrzehnten so viel spricht, gerade über jene Zeit, an deren Ende er zur Division Frundsberg kam. Es werden psychologische Erklärungen angeführt (Scham, Verdrängung etc.), aber auch historische oder sozialgeschichtliche Schwurbeleien. Grass selbst sagt dazu neben anderem, dass er all die Jahre nicht die angemessene Form gefunden habe, um über seine Jugend bei der Waffen-SS zu schreiben. Nun sei ihm dies aber in der Autobiografie doch gelungen. Ah ja, wie erstaunlich, dass ausgerechnet Günter Grass so lange brauchte, um die Autobiografie als die geeignete Form der Mitteilung von Selbsterlebtem zu identifizieren.

Nach den heftigen Aufwallungen um die Person Grass und dessen individuelles Verhalten ist die Debatte nun allerdings in die nächste Phase eingetreten - den Konflikt der Generationen. Kriegsteilnehmer hierbei sind: 1) die Generation Grass. Das sind die, die vor 1930 geboren wurden und als Flakhelfer, Arbeitsmaiden, Ausgebombte oder Jungsoldaten das Ende des Krieges erlebten; 2) die Generation Fischer, Joschka. Sie wurden Mitte bis Ende der sechziger Jahre volljährig, wenn auch nicht in jedem Fall vernünftig. Sie sind die 68er und standen entweder auf der Seite derer, die gegen das Establishment rebellierten (Fischer) oder definierten sich im Widerstreit zu diesen Rebellen (Stoiber); 3) die so genannten Jungen. Als jung, zumindest im intellektuellen Sinne, betrachten sich all jene, die es für ein politisches, im schlimmeren Fall gar für ein künstlerisches Statement halten, wenn sie sagen: "Mir gehen die 68er auf die Nerven." So gesehen können auch Leute, die, wie zum Beispiel Konrad Adam, ex-FAZ, jetzt Welt, 1942 geboren sind, genauso jung sein wie der 1971 geborene Florian Illies, ex-FAZ, jetzt Weiß-nicht-so-genau.

Grass und seine SS-Geschichte eignen sich nahezu idealtypisch als Kriegsgrund für diesen Generationenkonflikt, der ein Bürgerkrieg aller gegen alle ist. Grass" wortmächtige, oft selbstverliebte Altersgenossen von Ralph Giordano über Hellmuth Karasek bis Fritz J. Raddatz erklären aus eigenem Erleben oder mindestens aus der empfundenen Erinnerung, dass eben damals doch nichts so schwarz-weiß war, wie sie es selbst, und mag es vor 40 Jahren gewesen sein, im Meinungskampf gegen die Generation ihrer Väter manchmal dargestellt haben. Weil sich die Generation Grass-Intellektuelle aber schon viel zu lange kennt, giften ihre Vertreter nicht nur gegen die Jüngeren, sondern auch, und das besonders elaboriert, gegeneinander.

Immerhin wehren sich die Alten aus ihrer Sicht in erster Linie nach unten: gegen manche 68er und vor allem gegen die geschichtslosen Hedonisten der Post-68er. Die linken 68er dagegen sind in der Grass-Diskussion nahezu umzingelt. Von oben werfen ihnen die Alten vor, dass die 68er in ihrem Drang zu urteilen und zu verurteilen, die individuellen Umstände in den Jahren der NS-Herrschaft nicht oder zu wenig berücksichtigt hätten. Je älter die Alten werden, desto größer übrigens wird ihr Verständnis für die "individuellen Umstände". Raddatz" Rezension der Grass-Autobiografie in der Zeit zum Beispiel ist ein einziges großes Verständnis. Und wenn man manches liest, was Ulrich Wickert über Grass sagt, hat man den Eindruck, Wickert, der TV-Mann, sei schon fast so alt wie sein Vater, der Schriftsteller-Diplomat.

Während also die 68er von den Alten belehrt werden - das mag er gar nicht, der 68er -, werden sie von den Jungen, wie üblich, verhöhnt. Viele von ihnen empfinden das einerseits eher als Bestätigung. Andererseits hat Grass" SS-Auskunft gerade in der Generation Fischer starke Verunsicherung ausgelöst. Heinrich Böll, Willy Brandt und Günter Grass gehörten zu den Leitfiguren für jenes Deutschland, das dem Grauen nicht auskam, aber dabei anständig blieb. Und diese Leute wurden auch von jenen 68ern respektiert, die damals an die sozialistische Weltrevolution oder zumindest an den Umsturz im Frankfurter Westend glaubten. Böll ist in ihrem Sinne heilig gestorben, Brandt eigentlich auch und Grass - Grass war bei der Waffen-SS.

Wenn man in dieser Woche mit Joschka Fischer über die Causa Grass telefonierte, glaubte man selbst am Telefon Fischers Kopfschütteln zu sehen. Die Häme der gleich alten Anti-68er oder gar das Händereiben der einst linken, jetzt aber zur Welt oder anderswohin übergelaufenen Renegaten wunderte den Chef-68er nicht. Aber ein Satz seiner Gattin, die Anfang dreißig ist, schmerzte ihn: "Was regt ihr euch denn eigentlich so auf über den Grass?".

Das wiederum ist ziemlich exakt die Haltung der wirklich Jungen - nicht der ideologisch-Anti-Grass-Jungen oder jener Schriftsteller, die den Grass-Rummel beklagen, aber eigentlich schon zu lange und zu sonderbar schreiben, um noch als "junge Schriftsteller" durchzugehen. Klar, Letztere gibt es auch, aber etliche von denen erregen sich in Wirklichkeit eher darüber, dass ihre Autobiografien, die sie großsprecherisch Romane nennen, weniger erfolgreich sind als die Autobiografien der Älteren und zwar nicht nur, weil die Älteren meistens mehr erlebt haben. Allerdings wird die Grass-Debatten-Kritik dieser Art von Schriftstellern oder Publizisten gerne gedruckt, zumal wenn Worte wie "verlogen", "alte Männer" oder "Betroffenheit" (Letzteres immer in Anführungsstrichen) vorkommen.

Während man solche Texte, die über die Dominanz des Enzensbergerismus klagen, durchaus noch in Zeitungen und Zeitschriften findet, stehen andere Meinungen eher im Internet, in den Blogs, also dort, wo die wirklich Jungen Meinungen deponieren und suchen. Hier liest man die von Joschka Fischer berichtete Frage in vielerlei Abwandlungen, aber meist mit dem Tenor: Was geht's mich an, wo dieser alte Zausel im Krieg war? Und das unterscheidet diese Generation von den anderen zweieinhalb Generationen. Während die Alten, die 68er und auch die alten Jungen heftig übereinander herfallen und untereinander keifen, haben die Jungen keinen Bock darauf: Günter who?

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.189, Freitag, den 18. August 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: