Die Grand Tour:Ab nach Arkadien

Im 18. Jahrhundert gehörte eine Reise in den Süden zur guten Erziehung. Dichter und Adlige stillten so ihren Bildungshunger und brachten wie Friedrich Wilhelm IV. viele Ideen mit.

Von Carlos Collado Seidel

Restauriertes Porträt von Friedrich Wilhelm IV.

Ein Italienliebhaber, der die klassische Grand Tour absolvierte: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen.

(Foto: Nestor Bachmann/dpa)

Die Villa Massimo, das Deutsche Archäologische Institut, die Bibliotheca Hertziana und das Deutsche Historische Institut sind herausragende, in Rom gegründete kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen. Sie wurzeln in einer Antikenbegeisterung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert den deutschen Raum erfasste - und der sich auch die preußischen Herrscher nicht entziehen konnten. Zahlreiche Künstler und Gelehrte bereisten damals Italien, ließen sich dort zeitweilig nieder und beeinflussten mit ihren Werken maßgeblich das kulturelle Leben in ihren Heimatländern.

So hat der Italienaufenthalt Johann Wolfgang von Goethes, der sein "Arkadien" zwischen 1786 bis 1788 bereiste und seine Eindrücke in der "Italienischen Reise" niederschrieb, zahllose Nachahmer animiert, die seinen Spuren folgten und die Begeisterung für Italien weiter befeuerten. Goethe war wiederum einem durch Johann Joachim Winckelmann ausgelösten Drang gefolgt, der mit seinen Schriften die Epoche des Klassizismus begründet und durch seinen Leitgedanken geprägt hatte: "Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." Goethes 1805 erschienene Schrift "Winckelmann und sein Jahrhundert" spiegelt die Wirkung des Gelehrten auf seine Zeitgenossen und nachfolgende Generationen.

Schinkel und Klenze prägten mit klassizistischen Bauten Berlin und München

Karl Friedrich Schinkel und Leo von Klenze verhalfen wiederum in der Architektur dem Klassizismus im deutschen Raum zum Durchbruch; ihr städtebauliches Wirken und eine Vielzahl von repräsentativen Bauten prägen bis heute das Erscheinungsbild der Metropolen München und Berlin.

Dem Maler Anton Raphael Mengs als Wegbereiter des Klassizismus in der Malerei folgten in späteren Jahrzehnten unter anderem die religiös bewegten Nazarener. Dazu gehörten Friedrich Overbeck, der mit seinem Gemälde "Italia und Germania" sinnbildhaft die Brücke zwischen beiden Kulturräumen schuf, sowie Julius Schnorr von Carolsfeld und Peter von Cornelius, die mit ihren Werken das München Ludwigs I. entscheidend bereicherten. Goethe rühmte das Wegbereitende dieser Bewegung: "Der Fall tritt in der Kunstgeschichte zum ersten Mal ein, daß bedeutende Talente Lust haben, sich rückwärts zu bilden, in den Schoß der Mutter zurückzukehren und so eine neue Kunstepoche zu begründen."

Der Siegeszug der Oper als Gattung geht ebenfalls auf diese Hinwendung nach Italien zurück. Händel, Gluck und Mozart hielten sich in den damals stilprägenden Zentren Mailand, Rom, Venedig, Neapel und Florenz auf und gaben der Tondichtung nördlich der Alpen nachhaltige Impulse. Felix Mendelssohn Bartholdy reiste 1830 durch Italien und setzte seine Eindrücke in seiner drei Jahre danach verfassten "Italienischen Sinfonie" um.

Gelehrte und Dichter wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Hölderlin, Friedrich Hebbel und Franz Grillparzer folgten ganz genauso dem Ruf Italiens, hinterließen Zeugnisse ihrer Reisen und wurden durch ihre Eindrücke auf unterschiedliche Weise in ihrem Denken beeinflusst. Sammler, insbesondere im Auftrag von Fürsten, brachten wiederum antike Kunstwerke über die Alpen und trugen damit zur Begründung bedeutender Sammlungen in den Residenzstädten bei.

Der von den Italienreisenden ausgehende Siegeszug des Klassizismus steht wiederum im größeren Zusammenhang mit den als Grand Tour bezeichneten Bildungsreisen. Mit der Renaissance hatte die Rückbesinnung auf die Antike in England, Frankreich und im deutschen Raum ihren Ausgang genommen, und diese Reisen waren ganz im Sinne des humanistischen Ideals mit seinem Anspruch auf umfängliche Bildung. Die Reisen stellten zunächst für die Söhne des europäischen Adels einen nahezu obligatorischen Abschluss der Erziehung dar, bevor sie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch innerhalb der höheren bürgerlichen Bildungsschichten Verbreitung fanden.

Entsprechend der Vorbereitung der Adelssprösslinge auf künftige Aufgaben im Dienste der Höfe ging es nicht allein um die Besichtigung bedeutender Stätten der Kunst und Kultur auf der Spur des Wissens der Menschheit oder um die inspirierende und oft beschwerliche Reise durch anmutige Landschaften. Auf dem Programm standen ganz genauso das Studium der in den italienischen Staaten vielfältigen Regierungssysteme und Rechtsordnungen, das Erlernen fremder Sprachen und das Kennenlernen der Sitten und Anstandsregeln der Länder. Dazu gehörten eben auch Aufenthalte an den Höfen der Fürsten. Hinzu kamen das Knüpfen von gesellschaftlichen Kontakten und nicht selten auch standesgemäße Eheschließungen. Wie John Locke in seiner Abhandlung über die Erziehung feststellte, erwarben die jungen Menschen durch die Erfahrungen der Grand Tour Tugenden wie Unternehmungsgeist, Mut, Führungskompetenz und Entschlusskraft.

Den Reisenden der oft mehrjährigen Grand Tour haftete die Aura von Weltläufigkeit an und verlieh zusätzlich Status und Prestige. Die Grand Tour wurde aufgrund der Beschwerlichkeit und Unwägbarkeiten als Metapher für die Reise durch das Leben verstanden. Die Kunst des Lebens, so der Historiker Edward Gibbon, könne nicht im Studierzimmer erlernt werden. Unter einen umfangreichen Vorrat an klassischer und historischer Bildung müsse der Reisende vielmehr das praktische Wissen mischen.

Die Grand Tour war unverzichtbarer Bestandteil einer guten Erziehung

So wurde die Grand Tour als Initiationsritus auf dem Weg in das Erwachsenenleben verstanden, als Möglichkeit, geistig zu reifen, um bei der Rückkehr in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Generationen junger Menschen, vor allem aus England, beschritten diesen Weg. Die Grand Tour war ein unverzichtbarer Bestandteil der guten Erziehung und stellt damit eines der interessantesten Phänomene der europäischen Kultur jener Epoche dar.

Nachdem die Reisetätigkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt mit der Eröffnung von Eisenbahnstrecken immer weiter zunahm und sich dies auch im Aufkommen von Reiseführern niederschlug, verlor die Grand Tour sukzessive ihre ursprüngliche Bedeutung, ihre Philosophie und ihren Zweck. Mit der Hinwendung zum Mittelalter und zur Gotik in der Romantik erfassten das Kulturleben wiederum neue Sehnsuchtsorte, die den Blick auch geografisch in neue Gegenden verlagerten.

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