Süddeutsche Zeitung

Die Gewalt des Konsums:Brand und Boykott

Brennende Kaufhäuser, brennende Menschen ... Während die Wirtschaft brummte, wurde in den Sechzigern Widerstand entwickelt gegen den Konsum. Eine Studie über "Konsum und Gewalt".

Von Sven Reichardt

"Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen", schrieb 1968 die Kommune I auf einem Flugblatt über eine Brüsseler Brandkatastrophe, vermittele zum ersten Mal auch in einer europäischen Großstadt "jenes knisternde Vietnamgefühl". Die Kommunarden brachten mit dem zynischen Vergleich die 300 Toten in Belgiens größtem Kaufhaus mit den Napalm-Bombardements in Vietnam zusammen.

Mitten in der Durchsetzung der Konsumgesellschaft in allen Schichten entstand während der 1960er-Jahre eine radikale Form linker Kritik an der neuen Glitzerwelt des Massenkonsums. Die Verschiebung der marxistischen Analyse von der Produktionssphäre in die der Konsumption war folgenreich. Herrschaft war nicht nur Ausbeutung durch entfremdete Lohnarbeit, sondern Herrschaft der Ware über den Menschen und sein kolonisiertes Bewusstsein. Durch Kommodifikation des Lebens und reines Konsumdenken sahen die Denker der Frankfurter Schule alle Lebensbezirke auf einen Tauschwert reduziert. Die Illusion der Selbstverwirklichung durch Konsum werde durch die "Kulturindustrie" und ihre Vorspiegelung "falscher Bedürfnisse" genährt. Kaufen mache nicht frei, sondern abhängig und unselbständig. Statt Kreativität und Selbstbestimmung fördere der allgegenwärtige Konsum Egoismus und Oberflächlichkeit.

Längst ist an die Stelle dieser linksradikalen Kritik am "Konsumterror" ein moralischer Konsum getreten. Anstatt revolutionär aufgemachter Generalkritik an der angeblich totalitären Konsumwelt wird heutzutage versucht, durch den Kauf nachhaltiger, ökologischer und fair gehandelter Güter oder den Boykott besonders schädlicher Produkte konkreten Einfluss auszuüben auf die inhumanen oder ökologisch fatalen Bedingungen der Konsumgüterproduktion im globalen Osten und Süden.

Ein deutscher Sonderweg war diese radikale Konsumkritik nicht

Alexander Sedlmaier führt uns mit seiner vorbildlich genau recherchierten Studie zurück in den revolutionären Appeal der Sechziger- bis Achtzigerjahre in Deutschland, wenn er uns die gewaltsamen Guerillapraktiken gegen die "Konsumscheiße" vor Augen führt, angefangen bei den Aufforderungen zu Diebstahl, Plünderungen und dem Einwerfen von Schaufensterscheiben über die gewaltgeladenen Anti-Springer-Kampagnen gegen den boulevardesken "Konsumjournalismus" bis hin zu Formen der illegalen Aneignung öffentlicher Güter, wie bei den Protesten gegen die Kostensteigerungen im öffentlichen Nahverkehr. Mit den Hausbesetzern der Achtzigerjahre, die sich zum Teil militant gegen überbordendes Spekulantentum und eine Baupolitik der autogerechten Innenstädte wendeten, werden alternative Formen des Wohnens und Arbeitens behandelt.

Das Buch endet mit einem sehr instruktiven Kapitel über das ökologische Bewusstsein als Wegbereiter einer neuen Sensibilität für den zerstörerischen Einfluss bestimmter Konsumgüter und deren globale Verflechtung in komplexen Warenketten. Sedlmaier zeigt das detailliert an Beispielen wie den gezielten bundesdeutschen Warenboykotten gegen Tropenhölzer, gegen Früchte aus dem südafrikanischen Apartheidsregime oder gegen Kaffee aus der Militärdiktatur El Salvadors.

Einige Kontextualisierungen dieser umfassenden Studie zu Theorie und Praxis der Konsumkritik hätte man sich aber dennoch gewünscht. So bleibt der systematische Zusammenhang zwischen linker Konsumkritik und der gesellschaftlichen Durchsetzung der Konsumgesellschaft unklar. Die Frage nach den historischen Konjunkturen von Konsumprotesten wird nicht einmal aufgeworfen. Dass radikale Konsumkritik jenseits der 1960er- bis 1980er-Jahre auf eine längere Tradition zurückblickt, ist freilich unstrittig, hatte doch schon Jean-Jacques Rousseau den Luxus als Ursache von Sklaverei und Krieg gebrandmarkt. Auch gründlichere, systematischere Einblicke in die außerdeutsche Geschichte hätte man sich gewünscht. Ein Sonderweg, so konstatiert Sedlmaier, war diese deutsche Radikalisierung der Konsumkritik jedenfalls nicht. Das zeigen ähnliche Forderungen niederländischer Hausbesetzer, italienischer Autonomer oder von Globalisierungsgegnern in Indien, Südafrika und Brasilien.

Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018. 463 Seiten, 32 Euro.

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SZ vom 26.01.2018
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