Die Gesellschaft der Zukunft:Und jetzt haben wir uns alle mal lieb

Mehr Vernetzung, mehr Mitgefühl, mehr grünes Gewissen: Jeremy Rifkin ruft das Zeitalter der Empathie aus. Rettet das unsere Welt?

Johan Schloemann

Der Amerikaner Jeremy Rifkin ist spätestens seit den neunziger Jahren ein notorischer Stichwortgeber der weltweiten ökologischen und ökonomischen Debatten. Ob er nun pünktlich zur Genom-Entzifferung das "biotechnologische Zeitalter" einleitet, ob er dem politischen Establishment ein kapitalismuskompatibles grünes Gewissen verheißt, ob er sich unter der Überschrift "Access" die Unsicherheit des Eigentumsbegriffs in der digitalen Ära zugunsten einer neuen Zugangs-Wirtschaft zu Nutze macht oder ob er den nach dem 11. September 2001 verunsicherten Amerikanern den "europäischen Traum" erzählt - stets ist Rifkin als Konferenzteilnehmer, Berater mehrerer Regierungen (auch von Angela Merkel), Gastkommentator und Autor von vielfach übersetzten Bestsellern gefragt. Der Vielflieger Jeremy Rifkin ist der "Keynote speaker" schlechthin. Er ist selbst ein Globalisierungsprodukt als Mitglied einer Elite, die er als Vorhut der weltweiten Verständigung sieht.

Die Gesellschaft der Zukunft: Dortmunds Fussballer Kevin Grosskreutz (m.) und Neven Subotic (r.) machen es vor: Kooperation siegt über Konkurrenz.

Dortmunds Fussballer Kevin Grosskreutz (m.) und Neven Subotic (r.) machen es vor: Kooperation siegt über Konkurrenz.

(Foto: Foto: ddp)

Diese Lebensweise hat nur ein Problem: "Je kosmopolitischer ein Mensch", schreibt Rifkin selbst, "umso wahrscheinlicher verbraucht er einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Energie und Ressourcen dieser Erde." Das ist das Dilemma aller Weltretter, die nicht zu Fuß oder mit dem Segelboot zu ihren Zuhörern kommen. Nun aber, wenn sein jüngster optimistischer Vorstoß erfolgreich sein sollte, könnte Jeremy Rifkin auch dieses Dilemma lösen: Dann müsste er nämlich nicht mehr wie bisher so viel reisen, um die Umkehr der Menschheit zu betreuen.

Dann träfe nämlich die Prophezeiung ein, auf die viele Anzeichen in der gegenwärtigen Kultur hinweisen sollen: Die fortschreitende weltweite Vernetzung und Anteilnahme werde eine solche Steigerung des Mitgefühls produzieren, dass die nachhaltige interkulturelle Kooperation und die nötige Reduktion von Energieverbrauch und Naturzerstörung in Reichweite sei. Gewachsene Diversität, Toleranz und Internetverbindungen legten nahe, so Rifkin, "dass ein Paradigmenwechsel vorstellbar ist und es keine Generation mehr dauern könnte, bis die Wende zum biosphärischen Bewusstsein erreicht ist".

"Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein" heißt Jeremy Rifkins neues Buch, das in den USA gerade erschienen und soeben auch schon in deutscher Übersetzung herausgekommen ist (Campus Verlag, Berlin/New York 2010, 468 Seiten, 26,90 Euro). Darin finden sich zu unserer Gegenwart lauter Beobachtungen, die Mut machen sollen: "Kooperation siegt über Konkurrenz. Geteiltes Risiko und Zusammenarbeit auf der Basis gemeinsam zugänglicher Informationen statt machiavellistischer Intrigen und Machtspiele werden zur Regel." (Die gescheiterte Klimakonferenz in Kopenhagen übergehen wir jetzt mal.)

So wie das Internet die Welt zusammenwachsen lasse und uns dabei durch multiple Perspektiven- und Rollenwechsel "aufgeschlossener für die Vielfalt um uns herum" mache, so würden die Menschen im Zuge multikultureller Verstädterung auch in ihrer konkreten Nachbarschaft immer empathischer. (Die klassische Großstadtsoziologie sah in den Städten eher Distanznahme und Privatheit wachsen. Vom Bürgermeister von Neukölln ganz zu schweigen.) Selbst medial geschürte Massenhysterien wie die Trauer um Diana, die Prinzessin von Wales, sind für Rifkin ein Beweis für "die Humanisierung der Menschheit".

Hinzu kommen liberalere Einstellungen und Gesetze, Weisheit der vielen à la "Wikinomics", Abschied vom Solipsismus autonomer Konkurrenten, Mischehen, Spiritualität statt Religion, systemisches Denken, Suche nach "Gemeinschaft, Liebe und Nähe" . . . all diese Segnungen, die nach Rifkins Auffassung die Klimakatastrophe noch verhindern könnten, werden nicht zuletzt noch befördert durch die "weltweite Verbreitung der englischen Sprache", welche "die Grundlage für eine exponentielle Erweiterung des empathischen Bewusstseins" darstelle. Wow!

Die Argumentation, die Jeremy Rifkin mit seiner Breitwandprosa anbringt, um Empathie als den nächsten Megatrend auszumachen, ist zunächst einmal eine historische. In jeder kulturellen Umbruch- und Expansionsphase der Weltgeschichte sei die Erschließung neuer Energiequellen mit einer Revolution der Kommunikationstechniken einhergegangen: Ackerbau mit Keilschrift, protoindustrielle Revolution mit Buchdruck, Dampfmaschine mit Massendruckverfahren, Elektrizität/Verbrennungsmotor mit Telegraph/Telefon/Film. Jede relevante Epoche der Veränderung nun habe daher mit neuen Wirtschaftsformen und Weltsichten auch der Empathie einen neuen Schub gegeben.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Rifkin sein Modell noch einmal überdenken sollte.

Wellen der Empathie

Als derartige "Wellen" der Empathie werden beispielsweise ausgemacht: Konfuzius, Christentum als Religion des römischen Reiches, Handel im Spätmittelalter, Reformation, Humanismus, Nationalismus ("weitete den empathischen Impuls auf die neuen Grenzen der Nation aus"), Rousseau, Roman und Romantik, freie Marktwirtschaft, Entdeckung von Kindheit und Jugend, Gruppentherapie und Friedensbewegung. Nur durch die höhere Komplexität der Gesellschaften habe auch das Mitgefühl, wiewohl naturgegeben, überhaupt wachsen können.

In solcher Geschichtsschreibung - für die Jeremy Rifkin laut Nachwort in empathischer Kooperation vierundzwanzig "Rechercheassistenten" eingesetzt hat - haben sich Interessen, Klassen, Konflikte völlig in Luft aufgelöst, und damit auch Glaubenskämpfe, Weltkriege und Völkermorde. Das zwanzigste Jahrhundert firmiert bei Rifkin ausschließlich als Epoche des "psychologischen Bewusstseins", in der die Individualisierung der Glückssuche die Gemeinschaftsfähigkeit des Einzelnen gestärkt habe. Vom Holocaust ist in seinem Buch, das "eine völlig neue Interpretation der Geschichte der Zivilisation" entwerfen will, an keiner Stelle die Rede.

Zugegebenermaßen hat all die kulturelle und wirtschaftliche Expansion immer auch die Ressourcen der Natur bedenkenlos verschwendet. Das reicht von den versalzten Ackerböden der Sumerer bis zum Schmelzen der Eisberge heute. Da nun aber - und dies kann als der Clou von Jeremy Rifkins neuen Thesen gelten - der Empathie-Grad durch Vernetzung inzwischen so weit gestiegen sei wie nie zuvor, gebe es in der Welt unserer Tage erstmals die Chance, die nächste Empathiewelle nicht mit einhergehender weiterer Zerstörung der Lebensgrundlagen zu erreichen, sondern umgekehrt zu ihrer Bewahrung für künftige Generationen zu nutzen. Wie zu beweisen war. (Wie sich das Klimaproblem dann technisch lösen ließe, dafür hat Jeremy Rifkin auch noch eine Lösung parat, aber das ist wieder eine andere keynote speech.)

Es lohnt kaum, die verschiedenen Diskussionen der praktischen Philosophie, der Soziologie, der Politik- und der Geschichtswissenschaften aufzufahren, um zu erweisen, dass von diesem Rifkinschen Geschichtsmodell nicht allzu viel zu halten ist. Neben den erwähnten Mängeln und neben dem Weglassen von Autoren der aktuellen Debatte, die für Rifkins Themen einschlägig sind (wie beispielsweise Eva Illouz, Jared Diamond oder K. A. Appiah), irritieren an seinem Entwurf besonders der abenteuerlich platte Versuch, am Mitgefühl entlang den Fortschrittsgedanken zu retten, sowie seine falsche Grundannahme, aus Gefühlen, hier: der Empathie, erwüchsen unweigerlich auch kollektive Handlungsänderungen.

Der neue Wohlfühl-Biologismus

"Wir fühlen mit den Eisbären und Pinguinen", schreibt Rifkin - aber ist das eine hinreichende Voraussetzung dafür, dass wir durch schmerzliche Einschnitte in den westlichen Lebensstil ihr Schicksal auf den Eisschollen wirklich verbessern werden? Vor diesen fundamentalen Fehlern der Argumentation muss schon deshalb gewarnt werden, weil Rifkin mit seinem Thinktank "Foundation On Economic Trends" als beliebter Einflüsterer hochrangiger Politiker agiert, darunter auch der Europäischen Union.

Zu einem exemplarischen Dokument einer sich verbreitenden Geisteshaltung wird aber Jeremy Rifkins neues Werk "Die empathische Zivilisation" noch durch etwas anderes. Mit kontingenten, äußerlichen Befunden der Geschichte gibt er sich nämlich nicht zufrieden. Vielmehr soll die Empathie als innerer Antrieb des Menschen begründet werden, und zwar aus der Evolutionsgeschichte unserer Spezies. Damit scheint der Siegeszug eines neuen, "positiven" Biologismus in der allgemeinen Öffentlichkeit endgültig perfekt zu sein. Denn waren vor nicht allzu langer Zeit noch allerlei furchtbare Handlungen - Vergewaltigung, Rassendiskriminierung, Massenmord - evolutionshistorisch erklärt worden, so wird jetzt ebenso gerne die anpassungsbedingte Kooperationsneigung der Menschen in den Vordergrund gestellt.

Damit werden zwar durchaus auch jüngere Ergebnisse der seriösen biologischen Forschung popularisiert, die auf die genuine Reziprozität menschlicher Beziehungen hinweisen, auf die alte Sozialität unseres Wesens. Schlimm aber am neuen Wohlfühl-Biologismus ist: Die Tatsache, dass die Urmenschen innerhalb ihrer Sippe oder Gruppe wohl nett zueinander waren, wird als ausreichende Begründung dafür angeführt, dass wir heute alle nett zueinander sein müssen. Und so kommt bezeichnenderweise in Jeremy Rifkins gesamtem Buch über Mitgefühl der Begriff der Moral oder Moralität gar nicht mehr vor.

Man muss also heute wieder an eine Selbstverständlichkeit erinnern, die Carl Friedrich von Weizsäcker in seinen Vorlesungen zur "Geschichte der Natur" 1946 so formulierte: "Stärke und Gefahr des Menschen ist seine Freiheit von instinktiven Bindungen. Er kann sich über angeborene Schemata des Verhaltens erheben. Aber was er dann tut, hat nicht mehr die Sicherheit des Angeborenen. Der Mensch experimentiert, und oft genug scheitern seine Experimente."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: