Süddeutsche Zeitung

"Die Geschichte der getrennten Wege":Elena Ferrante gehört zu den besten Geschichtenerzählern unserer Zeit

Der dritte Band ihres Romanzyklus' spielt im Italien der Siebzigerjahre, einer Zeit voll politischer und krimineller Gewalt - von links, von rechts und von der Mafia.

Von Martin Ebel

Die Qualität einer Ware bemisst sich danach, wie gut sie sich verkauft. Dieser Hauptsatz des Kapitalismus gilt in der Literatur nicht. Eine besonders gesinnungsstarke Fraktion der Literaturkritik geht so weit, nur seiner Umkehrung Gültigkeit zu bescheinigen. Was die Masse goutiert, könne nichts taugen; die Qualität eines literarischen Werks erweise sich vielmehr in seiner Schwierigkeit, Unzugänglichkeit, Exklusivität. Nun ist es ein Kennzeichen guter Literatur, dass sie alle Hauptsätze durch ein einziges Gegenbeispiel aushebeln kann - alle Hauptsätze und auch ihre Umkehrungen.

Elena Ferrantes "Die Geschichte der getrennten Wege", der dritte Band der neapolitanischen Saga um die Freundinnen Elena und Lila, ist direkt nach Erscheinen an die Spitze der Bestsellerliste geschossen, und Band eins und zwei stehen immer noch auf der Liste. Wer nicht das Brett des Umkehrungssatzes vor dem Kopf hat, wird zugeben müssen, dass der neue Band den vorangehenden an literarischer Qualität in nichts nachsteht, im Gegenteil. Wer immer das geschrieben hat - das Gerede und Geraune, wer hinter dem Pseudonym steht, ist nach der Enthüllungsstory, der Empörung darüber und dem Dementi zum Glück verstummt -, gehört zu den besten Wortkünstlern, Menschengestaltern, Geschichtenerzählern unserer Zeit.

Was die breite Leserschaft fasziniert, ist nicht schwer zu erklären. Es ist das komplizierte Frauen-Doppel-Schicksal in einer aufregenden Zeit (diesmal von 1968 bis 1976) voll politischer und krimineller Gewalt, linksterroristischer, faschistischer, Mafia-Gewalt; eingebettet in ein umfangreiches Personen-Tableau und verschiedene farbig ausgemalte Milieus, vom Rione, dem Elendsviertel Neapels, bis zur Verlags- und Universitätsszenerie in Mailand und Florenz.

Lilas Genialität ist zugleich ihr Fluch

Elena, Namenscousine des Autorenpseudonyms und Ich-Erzählerin aller vier Bände, stammt wie ihre Freundin Lila aus der Unterschicht, hat aber eine höhere Schulbildung bekommen und konnte in Pisa studieren. Am Ende des zweiten Bandes ist ihr erster Roman erschienen. Jetzt, im dritten, heiratet sie Pietro, einen Altphilologen am Beginn seiner Hochschulkarriere, bewegt sich in besseren Kreisen, wird zweifache Mutter und findet sich im goldenen Käfig eines bürgerlichen Hausfrauendaseins wieder.

Lila wiederum, Tochter des Schumachers, hatte nach der fünften Klasse von der Schule abgehen müssen und einen eigenen Weg aus Enge und Elend gesucht, über das Geld. Mit 16 heiratet sie den gut verdienenden, aber brutalen Stefano Caracci, verlässt diesen wieder, stürzt sich in eine Amour fou mit dem charmanten Windhund Nino, die bald ihr Ende findet. Am Ende von Band zwei ist sie als Arbeiterin in einer Wurstfabrik gelandet, wieder ganz unten. In "Die Geschichte der getrennten Wege" arbeitet sie sich dort wieder heraus und in die Methoden des Programmierens ein - wir befinden uns in der Computer-Steinzeit. Schließlich wird sie zur Leiterin eines Lochkartenzentrums, angestellt und gut bezahlt ausgerechnet von Michele Solara, dem dämonischen Camorrista der Saga, der nach und nach den ganzen Rione von sich abhängig macht.

Lila hasst Michele. Dieser ist scharf auf sie, seit sie einst, noch ein spilleriges Mädchen, seinem großen Bruder Marcello ein Schustermesser an die Kehle gesetzt und keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie es auch gebrauchen würde. Natürlich würde er Lila auch gern ficken (wie es in der unverblümten Rione-Diktion heißt), so wie die 122 anderen Geliebten, derer er sich sogar vor seiner Frau rühmt. Aber Michele hat begriffen, was in Lila steckt: Sie hat "wie niemand sonst etwas Lebendiges im Kopf, etwas Starkes, das hin und her springt". Sie begreift schneller als jeder andere, kombiniert besser, denkt eigenständiger und kompromissloser. Sie, die Schulabbrecherin, hatte Elena beim Lernen geholfen, hatte sie gepusht, immer schon viel weiter in Gedanken als die disziplinierte, konventionelle, brave Freundin. Doch Lilas Begabung, ihre Genialität - das Attribut legitimiert sich vom Obertitel der ganzen Saga - ist auch ihr Fluch.

Sie verursacht eine tiefe Unzufriedenheit und quält sie bis zum Zerbrechen: Ihr Kopf droht zu platzen, sie fühlt sich "wie ein Rohr, wenn das Eis gefriert". Vor allem kollidiert sie mit den Verhältnissen, geprägt von struktureller und buchstäblicher Gewalt, von der Macht der Patrone, der Männer, der Mafia, die sich letztlich als stärker erweisen als Intellekt, Fantasie und Aggressivität, ihre Waffen. Indem sie Micheles Werben nachgibt, der ihre Begabung "kaufen will wie Perlen oder Diamanten", geht sie einen Teufelspakt ein, allerdings einen, bei dem sich der Leser gespannt fragt, wer der Teufel und wer die arme Seele ist.

Lila ist der Glutkern der Saga, ihre kreative und destruktive Kraft ordnet das Personentableau wie Späne in einem Magnetfeld um sie herum an. Und diese Kraft springt auf die Leser über. Immer wenn diese kurz davor sind, sich ein bisschen zu langweilen mit der Ich-Erzählerin Elena, ihren Status- und Rollenproblemen, ihrem Hadern mit dem eigenen Wert und Können, taucht Lila auf, mit dramatischen Trompetenstößen, und zieht den Roman aus dem geruhsamen Andante cantabile in ein wütendes allegro furioso e tempestuoso, geht es nicht mehr um Anerkennung oder die kleinen Unterschiede, sondern um alles oder nichts.

Das komplexe Verhältnis der beiden Freundinnen bildet das psychologische Zentrum der Romane, und es ist verblüffend festzustellen, dass es in seiner Ambivalenz auch nach drei Bänden noch lange nicht ausgeleuchtet ist. Sie sind voneinander abhängig, ineinander verkeilt und rivalisieren miteinander, seit Lila Elenas Puppe in ein dunkles Kellerloch geworfen hat. Anziehung und Abstoßung funktionieren wie ein Magnet (noch einmal!), der ständig seine Pole wechselt.

Elena, die gesellschaftliche Erfolge aufeinander häuft, fühlt sich dennoch der Freundin unterlegen, weswegen sie sich immer wieder radikal von ihr abwendet, um herauszufinden, wer sie selbst ist. Auch feindseligen Gefühlen lässt sie in ihrer Erzählung freien Lauf, bis hin zum Wunsch, die Unüberwindliche möge tot sein. Lila wiederum projiziert die Möglichkeiten, die sie nicht hat, auf den Aufstieg der Freundin, unterstützend, fordernd, wütend, wenn Elena sich hängen lässt: "Wer bin ich, wenn du nicht gut bist?" Ein "wunderschönes Leben" soll die Freundin führen, "auch für mich".

Dass die Autorin der neapolitanischen Saga eine Frau sein dürfte (was ja auch angezweifelt wurde), zeigt sich nicht zuletzt in den Passagen, in denen es um Körperwahrnehmung und Sexualität geht. Wenn die Freundinnen ihre sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit der "elenden Vögelei" und der Möglichkeit, selbst Lust zu erleben, austauschen oder Elena ihre Schwangerschaften erlebt bis hin zur panischen Angst, aus ihr kröche statt eines süßen Babys ihre verabscheute Mutter heraus, mit ihrer Engherzigkeit, ihrem Neid, ihrem Hinken. Und Elena Ferrante gibt diesem Komplex seinen zeithistorischen Hintergrund. In den Jahren der "Geschichte der getrennten Wege" ist die Pille noch nicht zugelassen (Elena und Lila besorgen sie sich illegal), die panische Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft Begleiterin jeder sexuellen Begegnung und der Mann in jeder Beziehung an der Macht.

Wenn Lila eine Schöpfung Elenas ist, wie kann dann Elena so mittelmäßig sein, wie sie beständig behauptet?

Auch kulturell. Elena merkt, dass ihr Minderwertigkeitsgefühl, ihr zwanghaftes Bedürfnis, zu gefallen und sich anzupassen, etwas damit zu tun haben, dass sie eine Frau ist. Sie liest sich in feministische Literatur ein und entdeckt, dass "die Kultur" eine männliche Kultur ist; das wird das Thema ihres zweiten Buches sein. Lila ist aber auch hier schon viel weiter und radikaler; ihre ernüchternden Erfahrungen in der Fabrik haben sie darin bestärkt, dass "alles Schwindel ist", von der Kultur bis zum Kommunismus, dass nur die Macht und das Geld regieren und jeder für sich schauen muss, wie er zurechtkommt. Schwindel ist übrigens auch körperlich zu verstehen; immer wieder erlebt Lila, wie schon in den vorausgehenden Bänden, Momente, in denen sie sich aufzulösen droht, sie gehören stilistisch zu den dunkel leuchtenden Höhepunkten des Buches.

Das Verhältnis der beiden Freundinnen, die selbst manchmal nicht wissen, wo die eine aufhört und die andere beginnt, hat aber noch eine weitere Dimension. Sie berührt die Geheimnisse literarischer Perspektivierung. Es ist ja Elena, die hier erzählt, ausschließlich ihre Stimme hören wir. Eine Stimme der Rekonstruktion, denn Lila ist von der Bildfläche verschwunden, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, und Elena, die sich ohne Lila wie ein Nichts fühlt, will sie wieder zurückholen - schreibend. Wir sind also, um uns ein Bild von Lila zu machen, allein auf Elenas Erinnerungen angewiesen, ergänzt durch Notizen der Freundin, die aber auch wieder von Elena ausgewertet, angereichert, ausfabuliert sind. Wie kommt es dann, dass der Glutkern Lila die konventionelle Hülle Elena immer wieder grandios durchstößt, zum Leuchten bringt, in Flammen setzt? Wenn Lila eine Schöpfung Elenas ist, wie kann dann Elena so mittelmäßig sein, wie sie beständig behauptet? Sie ist es doch, die uns diese Doppelgeschichte auf so brillante und intrikate Weise erzählt. Sollten also Lila und Elena ein und dieselbe Person sein, in zwei Körpern und Köpfen, aber auf einer höheren Ebene immer vereint?

So präsentiert der dritte Band der "Neapolitanischen Saga" die Erlebnisse zweier sehr real anmutender Personen in einer dramatischen Phase Italiens. Aber diese beiden Personen sind mit jedem Band zugleich plastischer und flirrender geworden, kommen uns näher und werden uns fremder zugleich. Was ist Identität? Diese Frage bleibt im Raum stehen, wenn wir das Buch zuklappen. Ihre Antwort, so ist zu vermuten, wird auch der Abschlussband nicht geben. Wir warten dennoch mit Ungeduld auf sein Erscheinen im kommenden Februar. Wieder in der wunderbaren Übersetzung von Karin Krieger.

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SZ vom 12.09.2017/khil
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