Süddeutsche Zeitung

Die Favoriten der Woche:Schöner wär's

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Aufregung um den Bubikopf, Fotos aus dem Berliner Lockdown, Zeichnungen von Goya, Bauten aus Japan und Yo-Yo Ma und Kathryn Stott an der Grenze zum Kitsch (aber trotzdem schön).

Kengo Kuma

Bei all der berechtigten Kritik an Großevents à la Olympia, WM oder Expo bieten diese doch in der Regel die Chance einen Ort, oft sogar ein ganzes Land besser kennenzulernen. Auch diese Regel hat die Pandemie ausgesetzt. Bei den Olympischen Spielen wie auch bei den Paralympics in Tokio waren bzw. sind Besucher nicht zugelassen. Schade, denn kaum ein Land dürfte in seiner Eigenartigkeit so faszinierend sein wie Japan. Für Architekturfans nimmt der Inselstaat sogar den Rang eines Pilgerziels ein, das man in seinem Leben zumindest einmal bereist haben will. Um sich über die Zeit zu trösten, bis das wieder möglich sein wird, hilft nun ein seitenschwerer und bildstarker Band über das Werk des japanischen Architekten Kengo Kuma (Hrsg.: Kengo Kuma, Philip Jodidio: Kuma. Complete Works 1988-Today; Taschen Verlag, taschen.com, Köln 2021, 460 Seiten, 150 Euro). Kuma ist mit seinem Büro - zusammen mit Taisei Corporation und Azusa Sekkei - verantwortlich für den Entwurf des japanischen Nationalstadions. Damit schließt sich in gewisser Weise ein Kreis, soll doch die benachbarte Nationale Sporthalle Yoyogi von Großmeister Kenzo Tange 1964 bei dem damals 10-jährigen Kuma den Wunsch geweckt haben, Architekt zu werden: "Ich wollte wie Kenzo Tange sein", schreibt er im Vorwort des Bildbandes. "Ich wollte Gebäude entwerfen, die den Himmel berühren." Doch anders als Tange, der Säulenheilige der modernen japanischen Architektur, geht Kengo Kuma heute sehr kritisch mit den Errungenschaften aus dem 20. Jahrhundert und seinem festen Glauben an Stahl, Glas und Beton als einzig Sinn machende Baumaterialien um. Kuma, mittlerweile ebenfalls ein Star, setzt auf Holz, meist verarbeitet mit traditionellen Handwerkstechniken. Was er damit schafft, egal ob es sich um das Holzbrückenmuseum im ländlichen Yusuhara, dem Sunny-Hills-Shop auf der eleganten Omotesando in Tokio oder dem Museumsbau des V&A Dundee in Schottland handelt, gleicht einem Kunststück: Denn die Bauten sind zeitgenössisch und traditionell zugleich. So erfüllen sie die Anforderungen von heute, strahlen aber doch etwas Menschliches, ja Warmes aus. Ganz offensichtlich geht es Kengo Kuma heute nicht mehr darum, den Himmel zu berühren, sondern den Menschen. Laura Weißmüller

Yo-Yo Ma und Kathryn Stott

Manchem wird sofort herausrutschen: Kitsch! Gewiss, die Bearbeitungen berühmter Songs aus den Liederbüchern der Welt für Cello und Klavier - von "Amazing Grace" bis "Solveigs Lied" aus Edvard Griegs "Peer Gynt"-Musik, von "Ol' Man River" aus dem Musical "Show Boat" von Oscar Hammerstein bis zum "Lied ohne Worte op. 109" von Felix Mendelssohn Bartholdy, der einzigen Originalkomposition für diese Kombination auf dem Vinyl-Doppelalbum "Songs of Comfort and Hope" (Sony) - haben etwas allzu Widerstandsloses, ja Wohlfeiles. Aber wie der grandiose Yo-Yo Ma und seine langjährige Klavierpartnerin Kathryn Stott in zartesten Klangnuancen und -valeurs an den Melodielinien entlang balancieren, ohne je plump oder klebrig zu werden, ist doch staunenswert. Das ist nicht kitschfrei, aber immer nobel und fein. Harald Eggebrecht

Berlin im Lockdown

"Schöner wär's, wenn's schöner wär", der Satz stimmt immer, aber besonders stimmte er im Lockdown-Winter in Berlin. Eben deshalb sind die Fotografen Christian Reister und Christoph Schieder zu nächtlichen Streifzügen aufgebrochen, die Sperrstunde lose umspielend. Das Ergebnis ist eine Ausstellung in der Berliner Galerie Kunstwild, die am Sonntag endet, und ein Bildband, in dem Reisters trockene Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Schieders psychedelische Farbfotos eine wunderbar belebte Leere zeigen. Der Betrachter steht vor verschlossenen Türen und Kneipenfenstern, blickt auf Mauern und in gekachelte S-Bahn-Schächte. Aber die Farben und Linien setzen die Räume in Bewegung. Der verlassenen Stadt ist nicht langweilig. Denn wo die Menschen fehlen, bleiben immer noch die Tiere wie der Fuchs am Kanzleramt (Foto: Christian Reister, "schöner wärs wenns schöner wär"). Sonja Zekri

Goyas Skizzenbuch

Zu den großen Vergnügungen des Reisens gehört der Besuch fremdländischer Buchhandlungen. In Barcelona und Madrid locken fünf Filialen von "La Central", einer 1995 gegründeten Unternehmung, die mit einem Riesenangebot durch alle Buchsektionen begeistert, viele Bücher sind, für Spanien ungewöhnlich, nicht spanisch: französisch, englisch, deutsch... Es ist ausgeschlossen, dass ein Besuch bei La Central ohne einem mit Büchern überfüllten Rucksack endet, den zu schleppen die Kräfte kaum ausreichen. Der überraschendste Fund jetzt in Barcelonas einst berüchtigtem Raval-Viertel: eine Facsimile-Edition des "Cuaderno C" von Francisco Goya (Skira, 38 Euro). Goya musste als Hofmaler viele wohlgesittete Porträts erstellen. Nebenher aber führte er malend Tagebücher, in denen er die Brutalitäten und Skurrilitäten des Alltags genauso dokumentierte wie seine Visionen und Albträume, die oft ins Groteske entwischen. Das sind vom Maler giftig hintergründig kommentierte Launen, auf Spanisch "Caprichos": So heißt das berühmteste dieser Bücher, 1779 auf den Markt gebracht, aber aus Angst vor der Inquisition zurückgezogen, die 80 Druckplatten schenkte Goya dem König. Es gibt auch eine Serie von acht Zeichenbüchern, die Goya nicht veröffentlichte, sie sind allesamt unvollständig. Der Goya-Forscher Pierre Gassier hat sie in einem unhandlichen und deshalb fürs Reisen untauglichen Riesenband vor 50 Jahren herausgegeben, ein fulminanter Wühltisch des Lebens. Das "Cuaderno C" ist das umfangreichste dieser Bücher, die über 100 erhaltenen Zeichnungen sind fast alle im Besitz des Prado. Die neue Prado-Edition besticht durch Schlichtheit: Hinter einem unscheinbar grauen, weichen Einband verbergen sich die Bilder in Originalgröße, 20 x 14 Zentimeter. Goya hat immer nur die Vorderseiten der mittlerweile vergilbten Papiere bemalt, die Tusche aber ist durchgegangen und bildet auf den Rückseiten raffinierte Schattenspiele. Da sind Folter- und Gefängnisszenen, Albträume, Erotica, Kruditäten, deren Beischriften im Anhang transkribiert und übersetzt werden. Es ist ein Band, mit dem sich schön reisen lässt und der zu eigenen Alltagszeichnungen verführt. Reinhard J. Brembeck

Der Bubikopf

Weg mit den alten Zöpfen, Aufbruch, Emanzipation: Das haben sich die ersten Frauen gedacht, die vor gut 100 Jahren nach einem Bubikopf verlangten. Die glatte oder gewellte Kurzhaarfrisur, die in Paris erfunden wurde, war zu Beginn der Weimarer Republik eine Revolution und erschütterte das klassische Rollenbild. Es gibt haarsträubende Geschichten, wie die Männer, die Kirchen, die Nazis, ja sogar die Frisöre selbst den Trend stoppen wollten. Frauen mit "Bubenkopf" wurden als Lesben, als "Knäbinnen", Prostituierte und "undeutsch" diffamiert. Sie durften nicht in Gottesdienste, wurden vom Arbeitsplatz verwiesen und brauchten einen "Ermächtigungsschein" ihres Gatten, falls sie einen Bubikopf beim Frisör verlangten - doch die praktische Frisur war nicht zu stoppen. All diese Geschichten hat Helga Lüdtke zusammengetragen (Wallstein Verlag 2021, 24 Euro) - ein gekonnter und schöner Stufenschnitt in die Kulturgeschichte. Marc Hoch

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