Die Enkel des 20. Juli:Bis in die dritte Generation

Felicitas von Aretin berichtet über die Ergebnisse einer Befragung unter den Kinder- und Kindeskindern der Widerständler des 20. Juli.

(SZ v. 19.07.2003)

"Lange Zeit war der 20. Juli für mich emotional so belastet, dass ich mich rational nicht damit befassen konnte", erzählt eine Mitdreißigerin, Enkelin eines Widerstandskämpfers. Diese Aussage verwundert nur auf den ersten Blick. In den vergangenen Jahren hat sich die wissenschaftliche Forschung (u.a. Dan Bar-On; Gertrud Hardtmann; Anita Eckstaedt, Milton Jucovy, Judith Kestenberg und Martin S. Bergmann) intensiv mit den Auswirkungen der NS-Zeit auf Nachkommen von Holocaust-Opfern sowie von Tätern in der zweiten und dritten Generation beschäftigt. Durch diese Arbeiten zieht sich der Befund, dass der gesellschaftliche Umgang mit der Vergangenheit, und darin eingewoben auch familiäre Erzählungen und familiäres Schweigen, die Nachkommen von Opfern und Tätern - wenn auch unterschiedlich -prägen.

Ausgeklammert von dieser Forschung blieben bislang die Kinder und Enkel des 20. Juli, obgleich das gescheiterte Attentat am 20. Juli 1944 für diese Familien gravierende psychische Auswirkungen hatte. Dieser Artikel befaßt sich mit der Enkelgeneration des sozialdemokratischen, bürgerlich-liberalen, militärischen und kirchlichen Widerstandes, einer Gruppe, deren Altersspanne mehrere Generation umfasst. Der Einfluß des 20. Juli scheint bis in die Enkelgeneration zu reichen, vor allem wenn traumatisierende Erfahrungen nicht aufgearbeitet wurden.

Mit kalkulierter Brutalität rächte sich Hitler nach dem Attentat an den Familien der meist ermordeten Widerstandskämpfer. Viele Witwen kamen in Sippenhaft oder in Konzentrationslager, die älteren Söhne entweder ins KZ oder zu Himmelfahrtskommandos an die Front. Die jüngeren Kinder - bisweilen die Enkel - wurden unter fremden Namen in einem Heim erzogen oder, wie die Enkel von Ulrich v Hassell, sogar entführt mit dem Ziel, sie zur Adoption freizugeben. Mit einem Schlag hatten die im adligen wie bürgerlichen Leben fest verwurzelten Familien neben Mann und Vater; Söhnen und Brüdern meist auch ihren Besitz, ihre Heimat und jedes gesellschaftlichen Ansehen verloren.

Nach dem Krieg war die deutsche Gesellschaft eher bereit, den Nationalsozialisten zu verzeihen, als die Familien der Widerständler zu integrieren, mit der Folge, dass Witwen und Waisen oft jahrelang um ihre Rente kämpfen mußten und Kinder und Enkel wie Familienmitglieder von Landesverrätern behandelt wurden. Die erste offizielle Feierstunde fand am 20. Juli 1954 in der Freien Universität Berlin im Beisein von Bundespräsidenten Theodor Heuss statt. Die öffentliche Meinung änderte sich langsamer: in einer Umfrage des Allensbacher Instituts 1956 lehnte fast die Hälfte der Bevölkerung es ab, eine Bundeswehrkaserne nach Stauffenberg zu benennen.

59 Jahre nach dem Anschlag hat sich der 20. Juli in der offiziellen Gedenkkultur Deutschlands etabliert, wenn gleich das Datum kein Feiertag ist. Im Bendlerblock, im Beisein der Bundesregierung wird der Tag als gesamtdeutsches Symbol feierlich begangen. Doch auf Grund der bisweilen brüchigen Zielsetzung der Akteure des 20. Juli bleibt das Datum als Projektionsfläche in seiner Bewertung von den Zeitläufen abhängig. In den sechziger Jahren galt der 20. Juli als "reaktionär", was eine Öffnung für andere Widerstandsgruppen möglich machte. In den achtziger Jahren entbrannte ein Streit um den "richtigen" Widerstand. Heute bewertet mancher Historiker ein anfängliches vorhandenes Mitverschulden der Widerständler so, als wäre ihre spätere Bereitschaft, für "ein anders Deutschland zu sterben", rein nebensächlicher Natur.

Die Enkel, zu verschiedenen Zeiten geboren und von verschiedenen Zeiten geprägt, spiegeln in ihrer Bewertung der Großväter ein Stück weit die Ambivalenz im gesellschaftlichen Umgang mit dem 20. Juli wider - auch wenn die breite Mehrheit stolz ist, einen Großvater zu haben, der dem Verbrechen widerstand. "Ich bin froh, aus einer Familie zu kommen, die keine KZ-Wärter hervorgebracht hat", sagt die Münchner Anwältin. Dennoch stimme sie selbstverständlich nicht mit allen politischen Zielen ihres Großvaters überein. Deutlich weniger ambivalent hinsichtlich der politischen Zielsetzungen ihrer Großväter äußern sich Enkel aus dem sozialdemokratischen oder bürgerlich-liberalen Widerstand.

Die meisten Enkel haben ihre Großväter nicht erlebt und speisen ihr Bild deshalb aus Familienerzählungen. Wie in anderen Nachkriegsfamilien überwog allerdings das Schweigen. Ausbildung, Karriere, Heirat und Familiengründung standen bei den Kindern im Mittelpunkt. Später reichte der Umgang der Kinder mit ihrer Vergangenheit von der Ablehnung des Vaters, über Gleichgültigkeit, hin zur Bewunderung bis zur Heroisierung. Viele Kinder aus Widerstandsfamilien haben Deutschland nach 1945 den Rücken gekehrt, mit der Folge, dass die Enkel weltweit zerstreut sind.

"In meiner Familie wurden viele Geschichten erzählt, wie liebevoll mein Großvater mit seinen Kindern war, aber nie, was er im Widerstand gemacht hatte", sagt ein Enkel. Vielfach wußten die Witwen zuwenig oder die Erinnerung war zu schmerzhaft, um mit den Kindern oder Enkeln über die politische Rolle des Großvaters zu sprechen. Der Tod des Großvaters und die Trauer um ihn scheint in vielen Familien jedoch - verbal oder nonverbal - omnipräsent. So erinnert sich beispielsweise eine Lehrerin daran, wie sehr ihre Großmutter sie als kleines Mädchen erschreckte, als sie ihr kurz und knapp den Tod des Großvaters mit folgenden Worten schilderte: "Sie haben ihn hingerichtet und dann verbrannt". Sie stellt sich als Kind immer wieder die Hinrichtung in Plötzensee vor, und hat im Wald Angst, jemanden zu entdecken, der sich aufgehängt hat.

Auch die Kindergeneration hat in der Regel Gespräche über den 20. Juli vermieden oder sich auf historische Fakten beschränkt - tabuisiert waren vor allem die emotionalen Auswirkungen. "Mein Vater hat nie gerne über den 20. Juli erzählt, erst jetzt im Alter redet er mehr", berichtet ein Bühnentechniker. Häufig gaben die Eltern ihren Kindern Bücher über das Dritte Reich zu lesen oder nahmen sie zu den alljährlichen Gedenkfeiern nach Berlin mit.

In einigen Familien wurde der Großvater heroisiert und sein Sterben als Märtyrertod stilisiert. "Für meine Mutter war mein Großvater ein heiliger Mann, dessen Handeln für die Familie unantastbar war", sagt eine Münchner Anwältin. Bisweilen fällt es Enkeln schwer, sich den Großvater als einen Menschen aus Fleisch und Blut vorzustellen. Manche Enkel vermuten, dass hinter der Idealisierung ein gerütteltes Maß an Trauer und Enttäuschung der Eltern stecken könne, vom eigenen Vater als Kind "im Stich gelassen worden zu sein".

"Meine Gefühle hatten in meiner Familie keinen Stellenwert", erzählt eine die Enkelin, die als Psychologin arbeitet. Im Vergleich zum Leiden des Großvaters sei jedes eigene Problem unbedeutend gewesen. "Gleichzeitig war klar, dass wir Kinder etwas besonders werden mußten". Es verwundert wenig, dass so mancher Enkel erst mit psychotherapeutischer Hilfe lernte, eigenen Gefühlen zu trauen und die Anspruchshaltung in Beruf und Partnerschaft auf ein lebbares Maß zu reduzieren.

Der Anspruch an sich selbst ist bei den Enkeln groß. Viele wählen einen beratenden Beruf wie den des Anwalts oder arbeiten in der Wirtschaft, für Ministerien und Verwaltungen, mit Vorliebe im Sozialwesen, im Arbeitsrecht oder dem Naturschutz. Auffällig hoch ist ferner die Zahl von Journalisten, Ärzten und Psychotherapeuten. Oft engagieren sich Enkel in der Nachbarschaftshilfe, in der Kirche, sitzen für rechts und links im Bezirkstag oder engagieren sich ehrenamtlich für ihren Beruf. Den Wunsch, aktiv in der Bundespolitik mitzumischen, verspüren die wenigsten. Wenigstens während einer Phase ihres Lebens setzen sich die Enkel zumeist intensiv mit Leben ihrer Großväter auseinander: sei es künstlerisch, wissenschaftlich oder indem sie Bücher über den Widerstand und das Dritte Reich sammeln.

Gelang die Verarbeitung des Geschehenen in der zweiten Generation, wuchsen die Enkel im Ausland auf, heirateten Kinder der zweiten Generation in psychisch stabile Familien oder kamen die Enkel erst in den siebziger Jahren zur Welt, sind die Chancen hoch, dass der 20. Juli für die Enkelgeneration nicht mehr als ein besonders historisches Datum ist, auf das die Enkel stolz sind.

"Jede Generation hat ihre Art zu erinnern", sagt eine Enkelin. Wie die meisten anderen Enkel will auch sie das Gedenken Großvaters, seinen Mut, seine Zivilcourage wachhalten. Ob dies auch weiterhin im Rahmen der offiziellen Gedenkfeiern geschehen soll, darin sind sich viele Enkel unschlüssig, die die Instrumentalisierung des 20. Juli durch die jeweils aktuelle Politik beklagen. "Ich hoffe immer noch, dass das Gedenken an den 20. Juli den Respekt vor der völlig unspektakulären autonomen Entscheidung der Protagonisten nicht verletzt und darum auf jede Heroisierung und parteipolitische Instrumentalisierung verzichtet wird", schrieb Caroline Neubaur, die Enkelin von Ludwig Beck vor einiger Zeit. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Felicitas von Aretin ist die Enkelin von Henning von Tresckow. Er war Chef des Generalstabs der 2. Armee und erklärter Gegner Hitlers. Von Treschkow nahm sich einen Tag nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 an der Ostfront in einem Waldstück nahe Bialystok das Leben. Im kommenden Jahr wird im Verlag Faber & Faber eine Studie der Autorin und von Bettina zu Lynar zu der Enkelgeneration des 20. Juli erscheinen, die auf Interviews beruht.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: