Vor einigen Jahren zog ich in einem Heidelberger Antiquariat einen verwitterten Band aus dem Regal: Dantes "Göttliche Komödie", übertragen von Stefan George. Als ich ihn aufschlug, fiel mein Blick auf einen Stempel: "Sächsische Landesbibliothek Dresden". In diesem Moment stand mir mein Großvater wieder vor Augen. In seinen letzten Lebensjahren war er oft in minutenlanges Schweigen versunken. Jetzt sah ich ihn voller Empörung die Stirn runzeln; und gleich darauf sagte ich, was er an meiner Stelle mit allem Nachdruck erklärt hätte: "Das gehört aber nach Dresden!"
Als ich weiterblätterte, stieß ich auf folgende Bleistiftnotiz: "Im Jahr 1942 bildete Dr. Ewald Jammers, Bibliothekar der Sächsischen Landesbibliothek, einen Dante-Studienkreis. Bei dieser Gelegenheit kam das Buch als Leihgabe an meine Eltern, die es nach der Zerstörung der Bibliothek und vor unserer Flucht 1945 meiner Tante zur Verwahrung gaben." Später sei es mit anderen Büchern in den Westen gelangt. "Nach meinem Tod soll es der Bibliothek zurückgegeben werden." Die Sächsische Landesbibliothek befand sich bis 1945 im Japanischen Palais, das August der Starke einst für seine Porzellansammlung vorgesehen hatte. Ein prächtiges Gebäude am Neustädter Ufer, unter dessen kupfergrünem Dach sich die goldstrotzenden Renaissancebände drängten. Vom Direktorzimmer ging der Blick über die Elbe auf die berühmten Türme und Kuppeln.
Im Japanischen Palais hatte mein Großvater Helmut Deckert in den Dreißigerjahren seinen Dienst als Bibliothekar begonnen. Geboren am 18. Januar 1913 in Dresden, hatte er früh seine Liebe zu Büchern entdeckt. Eines seiner prägenden Lektüre-Erlebnisse war der Antikriegsroman "Die Waffen nieder!" von Bertha von Suttner. Auch in theologische Schriften vertiefte er sich schon in jungen Jahren; zum Pfarrer fühlte er sich jedoch nicht berufen. "Ich wäre wahrscheinlich ein guter Kanzelredner, aber ein schlechter Seelsorger geworden." Nach zwei Germanistik-Semestern an der Leipziger Universität, wo ihn das Gebaren seiner in Uniform durch die Flure stiefelnden Kommilitonen anwiderte, erschien ihm die Landesbibliothek als Refugium vor dem Nazi-Ungeist.
Der Bibliotheksinspektor erzählte meinem Großvater von den Konzentrationslagern
Freilich, eine Insel der Seligen war auch das Palais nicht. Es gab Parteigenossen, Deutschen Gruß und Denunzianten. Dennoch stand die Bibliothek bei den Nazis in schlechtem Ansehen, zu leidenschaftslos war ihre Parteinahme für den neuen Staat.
Nein, als "geistige Rüstkammer des Gaues Sachsen", wie es der zuständige Minister forderte, eignete sich die ehemalige kurfürstliche Bibliothek nicht. Schon ihren Begründern war der sächsische Horizont zu eng gewesen.
Das Buchmuseum im Erdgeschoss hatte Erhart Kästner eingerichtet, bevor er Sekretär bei Gerhart Hauptmann wurde. Die Räume zierten pompejanische Malereien sowie Büsten von Goethe, Carus und Tieck. In den Vitrinen lagen flämische Handschriften aus dem Spätmittelalter, Buchmalereien aus Persien und die berühmte Maya-Handschrift, zu der schon Humboldt und Napoleon gepilgert waren.
Auf seiner Deutschlandreise besuchte Samuel Beckett am 10. Februar 1937 im Japanischen Palais einen Vortrag der Dante-Gesellschaft. Es ging um "Florentinische Kunst im Mittelalter und in der Renaissance". Wenige Monate zuvor hatte Victor Klemperer erfahren, dass er "als Nichtarier den Lesesaal nicht mehr benutzen dürfe". Als Romanistikprofessor an der Dresdner Hochschule hatte man ihn dort regelmäßig angetroffen. Er liebte die Bibliothek, in der er alles fand, was er für seine Studien brauchte: Voltaire, Montesquieu, Diderot. Im Japanischen Palais, erinnerte er sich später, "saß ich wie die Made im Speck".
Zwei Jahre später durfte er die Bibliothek nicht mehr betreten. Sein Tagebucheintrag vom 3. Dezember 1938 schildert die Bestürzung des Bibliotheksinspektors Alfred Striegel, der ihm das Verbot ausrichten musste: "Der Mann war in fassungslo-ser Erregung, ich mußte ihn beruhigen. Er streichelte mir immerfort die Hand, er konnte die Tränen nicht unterdrücken." Mein Großvater, damals ein Frischling im mittleren Dienst, hat nie vergessen, wie Klemperer das letzte Mal das Palais betrat und "die Bibliotheksräte aus dem Fenster schauten und einer vom anderen erwartete, dass er nach unten gehen und ihm sagen würde, dass ihm, dem geschätzten Leser, die Bibliothek in Zukunft verschlossen bleibt". So hat er es später dem Herausgeber der Klemperer-Tagebücher, Walter Nowojski, erzählt. Am Ende schickten sie den Bibliotheksinspektor vor, einen alten Militär, der die Nazis hasste und später denunziert wurde, als er in einem Gasthaus eine kritische Bemerkung machte. Er starb in den letzten Kriegstagen durch einen versehentlich auf ihn abgegebenen Schuss.
Der Dresdner Feuersturm hat Victor Klemperer das Leben gerettet, kurz vor der Deportation
Immer wieder kommt Victor Klemperer in seinen Aufzeichnungen auf Dantes Inferno zu sprechen; angesichts des anschwellenden Terrors sieht er die Juden in immer tiefere Höllenkreise hinabbefördert. Dass in jenem Jahr 1942, über das er am Silves-terabend notiert: "bisher das schlimmste Jahr", unweit von dem Judenhaus, in dem er um sein Leben fürchtet, ein Dante-Kreis die "Göttliche Komödie" liest, ist bezeich-nend für das Nebeneinander von Kultur und Barbarei im Dresden der Nazizeit.
Von den Höllenkreisen jener Jahre konnte jeder wissen. In der Bibliothek war es Alfred Striegel, der meinem Großvater von den Konzentrationslagern erzählte. Illusionen machte sich Helmut Deckert ohnehin nicht. Als Student hatte er Hitlers "Mein Kampf" mit empörten Randbemerkungen versehen. Er war Christ und Pazifist - das genügte, um den, wie er es nannte, "Rattenfängermethoden" der Nazis zu widerstehen. Im Kirchenkampf engagierte er sich auf Seiten der Bekennenden Kirche. Dass er zu Kriegsbeginn nicht eingezogen wurde und erst 1944 in eine Kaserne bei Meißen einrücken musste, verdankte er einem Herzklappenfehler. Den Krieg überstand er, ohne einen Schuss abgegeben zu haben.
Bei einer Nachtwache in Zaschendorf erlebte er am 13. Februar 1945 den Luftangriff auf Dresden. Mit schreckstarren Augen sah er die Bombengeschwader über sich hinwegdonnern. "Als ich nach der Entwarnung wieder ins Freie trat, bot sich mir der Anblick der brennenden Stadt, aus der unaufhörlich Feuerbüschel in den rotglühenden Himmel jagten." Auch das Japanische Palais wurde schwer getroffen; mehrere Mitarbeiter verloren ihr Leben. Nach einem weiteren Angriff am 2. März brannte das Gebäude aus. Gerettet wurde jedoch der Keller, in dem 400 000 Bände aufgestapelt waren. Vom Feuer verschont blieben auch Zigtausende Bücher, Drucke und Handschriften, die man im Dresdner Umland in Sicherheit gebracht hatte.
Eine weitere Katastrophe spielte sich in der Stille eines tiefer gelegenen Gewölbes ab. In Stahlschränken lagerten dort die Kostbarkeiten der Bibliothek. Zu spät entdeckte man, dass alles voller Elbwasser stand. Klitschnass lagen die Kostbarkeiten in den angeblich sicheren Schränken: der Sachsenspiegel, Dürers Skizzenbuch, Notenblätter von Bachs h-Moll-Messe.
Nach Kriegsende versuchten die Bibliothekare zu retten, was kaum zu retten war. Das Japanische Palais eine Ruine, die Bücher verbrannt, eingekellert, über halb Sachsen verstreut. Bitterkeit sprach aus meinem Großvater, wenn er von den Schwierigkeiten erzählte, eine neue Bleibe zu finden. Den Kommunisten galt die Landesbibliothek als feudales Überbleibsel, das seine Daseinsberechtigung erst nachzuweisen hatte. Zermürbend waren auch die Bemühungen um die ausgelagerten Bestände. Mit leerem Magen wanderten die Bibliothekare über Land, bettelten bei der sowjetischen Militäradministration um Fahrzeuge und Genehmigungen, bei den Bauern um ein Pferdefuhrwerk, ein paar Kartoffeln.
In Schloss Schieritz waren Bücherkisten geplündert worden. "Von einer wertvollen Handschrift", erinnerte er sich, "fand ich Reste auf einen Nagel gespießt auf dem Klo." Anderswo hatten russische Soldaten auf historischen Landkarten geschlafen. "Wir mußten sie aus jedem Bett einzeln herausziehen." Noch schwerer wog die Beschlagnahme von 200 000 wertvollen Bänden durch Stalins Trophäenkommission. Am 7. Mai 1946 verließen 988 Kisten den Radeberger Bahnhof in Richtung Moskau; nur ein Bruchteil davon kam 1958 nach Dresden zurück.
Als mein Großvater Jahrzehnte später seine Erlebnisse zu Papier brachte, schrieb er: "Zeit meines Lebens habe ich auf den Tag gehofft und gewartet, an dem es mir vergönnt sein würde, die verlorenen Schätze auspacken, liebevoll streicheln und wieder in ihre Regale einstellen zu dürfen. Dieser Traum ist ausgeträumt." Ausgeträumt war bald auch der Traum von einer Rückkehr ins Japanische Palais. 1947 bezog man eine ehemalige Kaserne am Stadtrand. Die Regale, die sich allmählich mit Büchern füllten, waren die im Feuer verformten Eisengestelle aus dem Palais, die man wieder geradegebogen hatte.
Anderes ließ sich nie mehr geradebiegen. Umso größer war die Freude, als Victor Klemperers Witwe 1977 der Landesbibliothek den Nachlass ihres Mannes anbot. Der Dresdner Feuersturm hatte ihm das Leben gerettet. Wenige Tage später sollte er deportiert werden. Bald nach dem Krieg war er wieder in der Bibliothek aufgetaucht, um seine Studien fortzusetzen. Voller Dankbarkeit machte sich mein Großvater an die Arbeit und erstellte in seiner akkuraten Handschrift ein Findbuch, das auf 90 Seiten akribisch jedes Blatt Papier auflistet. Klemperers "erstaunlicherweise erhalten gebliebene Tagebücher", notierte er, seien von unschätzbarem Wert.
Doch die Kriegsverluste trieben ihn weiter um. "Wo sind die Bücher nur hingekom-men?", hörte ich ihn einmal sagen. Die Karteikarten der verschollenen Titel findet man heute im Internet. Von Dante fehlen über hundert Bände; nur die Karte der George-Übersetzung mit der Signatur Lit. Ital. A 828 vh ist inzwischen gelöscht.
Helmut Deckert versenkte sich in die Arbeit, konzipierte das Buchmuseum neu, leitete die Handschriftenabteilung und eine Weile auch die Bibliothek. Er berauschte sich im Geiste an der Farbenpracht der Flora und Fauna von Surinam und gab im Insel-Verlag das "Neue Blumenbuch" und das "Insektenbuch" von Maria Sibylla Merian heraus. Und er forschte über die Dresdner Maya-Handschrift, über die er bis ins hohe Alter Vorträge hielt.
Ich ging noch nicht zur Schule, als er 1981 in den Ruhestand trat: einer der Letzten aus dem Palais. In der Bibliothek hatte ich ihn nie erlebt; doch es gibt eine Fotografie, die ihn vor dem alten Standortkatalog zeigt. In seinem weißen Arbeitsmantel sieht er aus wie ein Arzt oder Apotheker.
Die Liebe zu Büchern haben mein Vater, meine Brüder und ich von ihm. Vielleicht auch den Drang, Dinge zu bewahren. Die Sorgfalt, mit der wir jedes Buch anfassen und die mir schon oft verwunderte Blicke eintrug. In Bücher hineinschreiben? Den Buchrücken brechen? Eselsohren? Undenkbar für einen Deckert! Womöglich ist es ein fernes Echo auf das, was 1945 mit den Bibliotheksbüchern geschah.
Er starb am 18. Februar 2005 in Radebeul bei Dresden. Über seinem Schreibtisch hing ein Foto vom Japanischen Palais; heute hängt es bei mir. Viele seiner Bücher stehen in meinem Regal. Seine alte Schreibmaschine wird mich dereinst retten, wenn die Bildschirme erlöschen und die Saurier wiederkehren. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn als alten Mann mit weißem Haar; die Stirn gefurcht, doch der Blick hellwach, wann immer die Rede auf die Sächsische Landesbibliothek kam. Und noch ein anderes Bild kommt mir in den Sinn. Ich habe es nie gesehen, aber es ist mir oft beschrieben worden: wie er und die anderen Bibliothekare die Leiterwagen voller Bücher durch die Trümmerlandschaft zogen, die einmal Dresden war.
Renatus Deckert, geboren 1977 in Dresden, lebt als freier Autor in Lüneburg. Sein Romanmanuskript "Das Japanische Palais" steht kurz vor der Vollendung.