Süddeutsche Zeitung

Die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle:Michelangelos Muckibude

Die Sixtinische Kapelle - schönster Wahlraum der Welt: Was die Kardinäle bei dem Konklave sehen werden.

HOLGER LIEBS

Wenn sich vom kommenden Montag an die Kirchenfürsten der Welt wieder einmal in der hermetisch abgeriegelten Sixtinischen Kapelle versammeln, um den neuen Stellvertreter Christi auf Erden zu wählen, dann könnte das Ringen um die erforderliche Zweidrittelmehrheit nach Ausdauer verlangen. Nicht immer steigt schon nach zwei Tagen weißer Rauch auf wie im Jahr 1978, als die Purpurträger Karol Wojtyla zum Papst krönten. Es könnte beim Konklave also so mancher müde Kirchenmann erschöpft den Blick nach oben richten. Und damit würde er ganz im Sinne von Johannes Paul II. handeln.

Der verstorbene Papst hatte in seinem Gedichtband "Römisches Triptychon" vorgeschrieben, wie es sein solle nach seinem Tod, wenn sich die Kardinäle wieder in der Sistina einfinden. In Johannes' Hymne auf Michelangelo Buonarrotis Deckenfresken und auf dessen "Jüngstes Gericht" über dem Papstaltar schreibt er den Kardinälen ins Stammbuch: "Es ist wichtig, dass die Vision Michelangelos zu ihnen spricht. ,Con-clave' (,mit dem Schlüssel'): gemeinsame Sorge um das Erbe der Schlüssel, der Schlüssel des Himmelreichs."

Diese "Vision" Michelangelos am Gewölbehimmel der Kapelle glaubt jeder zu kennen -- zumindest die "Erschaffung Adams" mit dem uranfänglichen Spiel der langgliedrigen Finger zählt zu den am häufigsten reproduzierten Werken der Kunstgeschichte und inzwischen auch der jedes Detail heranzoomenden DigiCams. Es muss sich heute keiner mehr das Rückgrat verbiegen wie noch der Künstler, der in seinem berühmten Sonett über die Malanstrengungen stöhnte: "Nach hinten schrumpft das Leder mir zu Fransen / Je mehr ich vorn mich auszudehnen plage / Und krümme mich als wie ein Syrer-Bogen."

Zwar sehen wir die Früchte dieses titanisches Werks, in nur wenigen Schaffensjahren, aber über einen Zeitraum von gut vier Jahrzehnten überwiegend vom Meister selbst freskiert, zehn Meter über uns an der Decke schweben: von der androgynen Gestalt Gottvaters, der aus dem Ursprungschaos hervortaucht, über die Szenen im Paradies bis hin zur Sintflut und der Trunkenheit Noahs. Wir sehen die flankierenden Gestalten der Propheten und Sibyllen und die "ignudi", die nackten Jünglinge, eingebunden in eine gemalte Scheinarchitektur, sowie, in einer dritten Zone, die Vorfahren Christi. Und wir sehen das "Jüngste Gericht" mit dem zornigen Gottessohn im fiebrigen Strudel der Geschehnisse während der letzten Tage der Menschheit.

Doch was Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle "al fresco", also auf noch frischen, feuchten Putz gemalt hat, ist nie wirklich einer letztgültigen Deutung unterzogen worden. Das scheint auch gar nicht möglich. Zu vielschichtig ist das Bildprogramm in dem 40 mal 13 Meter messenden Gewölbe ausgeführt. In der Renaissance der Tage Michelangelos verflochten sich christliches Gedankengut und das Erbe antiker Vorstellungen auf vielfältigste Weise. Beherrschend ist für das Deckenfresko der Gedanke, dass die Gestalten des Alten Bundes auf Christus und die Heilsgeschichte vorausweisen -- und damit natürlich auch auf die heutigen Stellvertreter Christi auf Erden, die Päpste.

Letztlich hat sich der Künstler in der Sistina aber vor allem selbst ein Denkmal gesetzt, in einer Schöpfung ohne Beispiel, einer schon in den Größendimensionen unfassbaren, olympischen Pracht und Vielfalt, frei von jeglichen Konventionen, in der der menschliche Körper als Gipfel geistiger und physischer Schönheit im Mittelpunkt steht. Wobei Michelangelo vor allem den männlichen Körper verherrlichte, muskelschwellend und kraftstrotzend, wie er ihn fünf Jahrhunderte vor Erfindung des Bodybuildings auffasste, darin sowohl antiken Idealen folgend als auch den manieristischen Gliederdehnungen des späten 16. Jahrhunderts vorausgreifend.

Der Auftrag des Papstes Julius II. an den zunächst widerwilligen Michelangelo (1508) sah eine Übermalung bereits existierender Fresken vor. 1483 war die Sixtinische Kapelle eingeweiht worden. Das wehrhafte Bollwerk mit Mauern von drei Metern Dicke sollte den Pöbel fernhalten und war exakt in den Ausmaßen entworfen, die die Bibel für den des Tempel Salomons in Jerusalem vorsah. In der Kapelle, die nach Papst Sixtus IV. benannt ist (1474-81), fand von Anfang an auch das Konklave statt. Lorenzo de' Medici entsandte als diplomatische Geste die besten Maler aus Florenz ins vor- und nachmals verfeindete Rom, um sie auszumalen: Perugino, Botticelli, Rosselli, Piero di Cosimo, Ghirlandaio sowie Luca Signorelli. Von ihren Fresken zu den Leben Mose und Jesu sowie dem Fries von 32 Päpsten ist Peruginos "Die Übergabe der Schlüssel an den heiligen Petrus" sicherlich das bedeutendste Werk -- und hochsymbolisch: Vor einem architektonischen Idealprospekt der Renaissance überreicht Jesus seinem Jünger den Schlüssel und erklärt ihn dadurch zum ersten Stellvertreter Gottes auf Erden.

Bevor Michelangelos Fresken von 1980 bis 1994 aufwändig restauriert wurden, strahlten sie noch nicht in den leuchtendsten Farben. Daher meinte man lange, ihm sei es mehr um das plastische Formenspiel seines biblischen Personals gegangen als um die Farbenwirkung, ganz wie in seiner ureigensten Domäne, der Skulptur. Tatsächlich hat Michelangelo die Farbenpracht eines Perugino noch übertreffen wollen -- und dies auch geschafft mit seinen Übermalungen des ultramarinblauen Sternenhimmels, der zuvor das Gewölbe schmückte.

Nach der Vollendung des Deckenfreskos führte das Schicksal Michelangelo erst satte drei Jahrzehnte später in die Sixtinische Kapelle zurück: Julius II. hatte er überlebt, nun war es einer von dessen Nachfolgern, Clemens VII., der den Auftrag zur Freskierung des Jüngsten Gerichts an den gealterten Michelangelo erteilte. Er schuf von 1536 bis 1541 über dem Papstaltar eine erschütternde, kosmische Vision von Verdammnis und Seelenheil, die die zunehmend schmerzliche Frömmigkeit seiner späteren Lebensjahre widerspiegelt, eine herkulische Seelenqual, die nicht nur in den mächtigen Leibern des Freskos Gestalt anzunehmen scheint, sondern die Michelangelos Zeitgenossen auch dem Künstler selbst als "terribilità" zuschrieben.

Michelangelos grandiose Körperkunst sah ausschließlich nackte Leiber vor, auch beim Weltenrichter selbst. Die Zeitgenossen waren erzürnt, sahen Gotteslästerliches in den Nuditäten, so dass diese schließlich übermalt wurden, von Michelangelos Schüler Daniele da Volterra, der als "Hosenmaler" in die Geschichte eingegangen ist. Und so wird keiner der Kardinäle schamesrot werden müssen, wenn er sich beim Procedere der nächsten Woche hilfesuchend oder auch nur gelangweilt umsieht: Auch nach der Restaurierung sind die meisten der ehemals Entblößten schamhaft verhüllt geblieben. Johannes Paul II. aber wusste: "Nackt werden sie geboren, und nackt kehren sie zur Erde zurück, von der sie genommen sind."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.415493
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
<i>SZ vom 14.4.2005</i>
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.