"Die Dame mit der bemalten Hand":Bevor die Himmelsbilder erstarren

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Sie gilt als berühmtester Geheimtipp der deutschen Gegenwartsliteratur. Ihr neuer Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ein Treffen mit Christine Wunnicke.

Von Marie Schmidt

Bei der beliebten Klage darüber, wie schlimm die Schriftstellerin Christine Wunnicke unterschätzt wird, kann man mit der Unterstützung von Christine Wunnicke nicht rechnen. Sie sei schon berühmt genug, findet sie. Außerdem sei sie eben ein eher privater Mensch. Sie tritt nicht gern auf. Mit dem sogenannten Literaturbetrieb könne sie leider auch nichts anfangen, sagt sie entschuldigend, auf Partys sehe sie sich nicht und auf Bühnen schon gar nicht.

Aber wir können uns treffen und reden, hat sie geschrieben, und einen Ort vorgeschlagen, der "quasi mein zweites Zuhause" ist. Man hat dort eher wenig Publikum, oder wenn, dann ein sehr ruhiges. Die Toten auf dem Alten Münchner Südfriedhof, mitsamt den Klenzes, Reichenbachs und Westenrieders, nach denen darum herum die Straßen heißen, sind schon länger tot. Im Viertel fungiert der Friedhof als kleiner Park, in dem man eine verwunschene Ruhe hat. Vor allem an so einem wummernd heißen Augustnachmittag. Unter mächtig dunkelgrünen, alten Bäumen schieben sich mit sparsamen Bewegungen nur ein paar Spaziergänger über die Wege.

Und auf einer Bank mittendrin redet Christine Wunnicke sehr engagiert davon, wie unwohl sie sich bei Lesungen fühlt. Ihre letzte sei zwei Jahre her, und danach habe man ihr gesagt, sie habe so verschlossen gewirkt. Offenbar entspricht Wunnicke ein paar Erwartungen nicht, die die Öffentlichkeit an eine Schriftstellerin hat. Und nur daran kann es liegen, dass auch nachdem jetzt zum dritten Mal eines ihrer Bücher auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, ein Kommentator schrieb, er habe es erst googeln müssen.

Gerade ist ihr der Literaturpreis der Stadt München zugesprochen worden

Dabei werden ihre Romane seit geraumer Zeit hymnisch besprochen. Wobei kaum ein Rezensent versäumt zu bemerken, wie sträflich wenig Christine Wunnicke beachtet wird. Der berühmteste Geheimtipp der deutschen Literatur. Gerade ist ihr der Literaturpreis der Stadt München zugesprochen worden. Da ist sie nämlich 1966 geboren, aufgewachsen und nach ein paar Jahren, in denen sie in Westberlin Linguistik und Psychologie studiert hat, ist sie wiedergekommen und geblieben. Hauptsächlich verdient sie ihr Geld mit Übersetzungen, zum Beispiel für das Haus der Kunst. Manchmal schreibt sie Hörspiele, Erzählungen. Das sei ihre Mischkalkulation, sagt sie. Die bewähre sich auch in der Corona-Krise, sie habe immer zu tun. Und alle Jahre kommt einer ihrer kurzen Romane, die verständlicherweise jeder gerne ganz für sich alleine entdeckt hätte, so kostbar wirken sie. Wie verzauberte Gemälde, die jahrelang in einer Ecke des Museums vergessen worden sind, bis ein Beleuchter einen Strahl darauf richtet und einen Schatz aus dem Schatten holt.

Wunnickes Geschichten handeln von pittoresken Begegnungen historischer Figuren, wobei die subtilen Gefühle, die sie füreinander hegen, sich gewöhnlicher Überlieferung auf jeden Fall entziehen würden. In ihrem neuesten Buch "Die Dame mit der bemalten Hand" kommt Carsten Niebuhr vor, tatsächlich Forschungsreisender des 18. Jahrhunderts, den der Göttinger Theologe Johann David Michaelis als "Mathematicus" losschickt, in Arabien die Realien des Alten Testaments zu erforschen. Mit fünf Männern anderer Fächer, die alle auf der Reise sterben. Und auch Niebuhr leidet unter dem "Sumpffieber", als Christine Wunnicke ihn auf der Insel Gharapuri vor Manbai, heute Mumbai, stranden lässt. Dort schlummern in den heute als Touristenattraktion berühmten Höhlen von Elephanta die Steinbilder unzähliger indischer Götter. Bei denen findet ihn die zweite Hauptfigur, der persische Astronom Musa al-Lahuri, der auf seiner Route nach Mekka auf Abwege geraten ist. Und wie er da väterliche Gefühle entwickelt für den inmitten tropischen Getiers und mythischer Wesen fiebernden Europäer, "bläulich weiß wie entrahmte Milch", das erinnert sofort an Wunnickes Novelle "Nagasaki, ca. 1642" von 2010, die der Berenberg Verlag gerade wieder aufgelegt hat. Darin fährt ein in Würde gealterter Samurai einem holländischen Dolmetscher der Ostindien-Kompanie immer wieder ungläubig durchs Blondhaar, mit einer prickelnden Mischung aus Rachsucht und Begierde.

"Leser, die sich historische Romane erwarten, sind oft enttäuscht von meinen Büchern."

Und wo wir gerade über diese Geschichten reden, fängt sogar der Münchner Südfriedhof an, Christine Wunnickes Schauplätzen zu ähneln. Anstelle der Äffchen und Schlangen dort, rasen um uns herum Eichhörnchen als rote Sonnenblitze in die Bäume und keckern. "Leser, die sich historische Romane erwarten, sind oft enttäuscht von meinen Büchern", sagt Christine Wunnicke. Sie staffiert ihre Geschichten nicht um der Authentizität willen mit angelesenem Zeitkolorit oder wiedererkennbaren Figuren aus. Manche Details, etwa der Kleidung oder Verkehrsmittel, denkt sie sich beim Schreiben aus und recherchiert später, ob sie stimmen. Ihr Stil ist lakonisch, unmanieriert, während des Schreibens kürzt sie, macht aus jeder Seite eine halbe. Sie empfinde es ihren Figuren gegenüber als höflich, sagt sie, nicht jeden Winkel ihres Charakters auszuerzählen, ja selber nicht alles über sie wissen zu wollen. Ihre letzten Bücher sind kaum mehr als 150 Seiten lang, auf denen nur das Wesentliche steht. Das unterscheidet sie etwa von denen von Daniel Kehlmann, mit dem Wunnicke oft verglichen wird, der Stoffe und eines leise ironischen Tons wegen. Was ihr spürbar missfällt.

Man liest ihre Romane sehr langsam, mit dem aufregenden Gefühl genau beobachten zu müssen und doch noch nicht alles verstanden zu haben. Wobei das auch den Geisteszustand der Figuren spiegelt, die häufig etwas desorientiert sind: In einem Delirium, wie Florence Cook in dem Roman "Katie" (2017), die als Medium im London des späten 19. Jahrhunderts die spiritistisch bewegte Gesellschaft in einen Rausch versetzt. Oder im Fieberwahn, wie der verirrte Forscher Carsten Niebuhr in "Die Dame mit der bemalten Hand".

Die besten Pointen von Christine Wunnickes Geschichten entstehen aus Sprachgewirr und Übersetzungsproblemen. Die bringt sie in lustigen Idiomen und Sprachebenen des Deutschen. Der gebildete Musa beispielsweise, spricht Persisch, Arabisch, Griechisch, Latein. Aber seine Alltagssprache ist der Straßendialekt von Jaipur, den die Schiffer vor Manbai nicht verstehen. Also versucht er es in Sanskrit, der Sprache der gelehrten Brahmanen: ",Großmächtiger Ruderschlag im präzisen Jetzt!', schrie Meister Musa." Am Ende des Romans landen noch mehr Europäer auf Gharapuri: ",Es erschließt sich mir nicht, wie man im offenen Land so verlausen kann', meinte Captain Phelbs". Man hört es am Zischeln der Konsonanten auch auf Deutsch sofort, es sind Briten, die gierig durch die Elephanta-Höhlen streifen: "Eines Tages, so Harrington, wenn Englands Herrschaft gefestigter wäre, würde er die Handelsgesellschaft um Unterstützung bitten und die Altertümer so sehr reparieren, dass man Bankette oder gar venezianische Feste darin veranstalten könnte."

Christine Wunnicke gefällt die Unauffälligkeit. (Foto: Catherina Hess)

Aber vorerst stolpern die Kolonialisten ziemlich ungeschickt in der Welt herum. Wenn man auf einen Begriff bringen müsste, was Christine Wunnickes Thema ist, dann wäre es: unsicheres Wissen, kurz bevor es sich zu mächtigen Weltbildern verhärtet. In der zentralen Szene ihres jüngsten Romans reden Niebuhr und Musa über die Sterne. Der Deutsche erklärt, wie man Kassiopeia erkennt. Das sei aber nicht das ganze Sternbild, sagt der Perser, sondern nur ein Teil, die bemalte Hand einer viel größeren Figur. "Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder", geht Niebuhr auf.

Vor dem Wort "Schriftstellerin" hat es ihr schon als Kind gegraust, da schwingt Zerquältes mit

Für Christine Wunnickes Verhältnisse eine ungewöhnlich eindeutige Pointe. Sobald man aber versucht, eine politische Botschaft daraus zu gewinnen, wehrt sie wieder ab. Wenn sie die Fähigkeit hätte, engagiert zu wirken, sagt sie, würde sie das als Politikerin versuchen, nicht als Schriftstellerin. Und gegen die Vorstellung, eine Schriftstellerin zu sein, sträubt sie sich auch. Vor dem Wort habe es ihr schon als Kind gegraust, da sei so etwas Zerquältes mitgeschwungen, durch das öffentliche Bild Ingeborg Bachmanns vielleicht.

Das Gesellschaftsspiel, das die Literatur ja auch immer ist, spielt Christine Wunnicke einfach nicht mit. Mit ihren früheren Büchern musste sie öfter den Verlag wechseln, weil die mit dem Programm von Großverlagen nicht zu vermitteln waren, oder kleinere Verlage eingegangen sind. Seit ihrem Roman "Selig & Boggs" (2013) über zwei Hollywood-Pioniere ist sie im Verlag des langjährigen Wagenbach-Lektors Heinrich Berenberg untergekommen. Sie schwärmt von diesem Verlag, in dem sonst wenig fiktionale Literatur erscheint. Da werden ihre Bücher als die charismatischen Kleinode verlegt, die sie sind. Wer sie heute immer noch nicht kennt, hat wirklich mehrere Leben versäumt.

Das Leben von Christine Wunnicke spielt sich indes weiter außerhalb der Öffentlichkeit ab. Als unser Gespräch träger wird und der Abend kühler, steht sie sehr bestimmt auf und strebt den Friedhofstoren zu. Dort verabschiedet sie sich und taucht ab in die Unauffälligkeit, die ihr so gefällt.

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. Roman. Berenberg, Berlin 2020. 168 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 29.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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