Süddeutsche Zeitung

Die CDs der Woche - Popkolumne:Schluss mit Pop-Schneewittchen

Karen O, die Stones und noch mehr: Beim Rückblick auf das Pop-Jahres 2012 fällt auf, dass es auch von grandiosen Filmsongs, Konzerten unter Freunden und einem einzigartigen Band-Jubiläum geprägt war. Und wer wirklich wissen wollte, wie die sogenannten jungen Leute heute ihre Stars feiern, erfuhr es auch.

Zum Lesen und Hören in unserer Popkolumne. Von Joachim Hentschel

Um die Jahreswende erscheinen selten wichtige Alben. Ein guter Zeitpunkt also, um das Pop-Jahr 2012 zu resümieren. In den vergangenen Wochen bekannten sich schon Karl Bruckmaier, Max Fellmann und Max Scharnigg zu ihren Platten und Pop-Momenten des vergangenen Jahres, heute ist Joachim Hentschel am Zug. Es folgen noch Jens-Christian Rabe und Jan Kedves.

Karen O

Erster bester Moment des Jahres: Die Titelsequenz von David Finchers Filmversion des Kriminalromans "Verblendung" von Stieg-Larsson. Musik: Trent Reznor und Atticus Ross. Gesang: Karen O. Das Stück: "Immigrant Song", offizielle Wikingerhymne der Brustbein-Lockenmachos Led Zeppelin, in dieser neuen Fassung aber wie durch schwarzes Eis gebrüllt, von der unheimlichen Frau.

Dazu, in den Filmbildern, die mythische Geburt der Romanfigur Lisbeth Salander, der sexuell sonderbaren Hackerin und Rächerin, die natürlich nicht als Venus aus dem Schaum steigt, sondern sich aus einer Flüssigkeit zu verfestigen scheint, aus Öl oder etwas ähnlich Zähem, Giftigen. Die das Maul aufsperrt, die Luft verschlingt, genau wie Karen O im Song, bockelhart ätherisch, das Gegenteil zu jeder der unzähligen klar definierten, postfeministischen Pop-Schneewittchen, die 2012 die Blog-Charts und Windows-Werbespots beherrschten. Fast vergessen: So fühlt sich Angst an.

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Noch eine überraschende Materialisierung: Die junge New Yorker Band Friends trat Anfang März in Berlin auf, im Pop-up-Store des Kleiderversandhauses Zalando. Pop-up-Stores, die wie blinkende Kunstpilze aus dem Boden ploppen, bedeuten: Geschäftsmodelle, die ins Internet abgewandert sind, wandern von dort wieder in die stoffliche Welt zurück.

Und die Friends, notorische Social-Media-Lieblinge, machen es an diesem Abend genau so. Drängeln sich zu fünft auf die Bühne, spielen gegen den extralauten Massen-Chat an, den die geladenen Weißwein-Gäste führen. Verwandeln die virtuelle Energie ihres MP3-Gummitwist-Pop in messbare Hitze. Sängerin Samantha Urbani, auch längst Modeikone, geht los, um Zuschauer anzufassen. Selten wurde man von Avataren so körperlich bedrängt, aber es ist gut.

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Sie ist - wenn sie gerade Lust darauf hat - wahrscheinlich die derzeit beste Rapperin, Süßstoffprinzessin, Überspitzen-Bitch: Nicki Minaj. Und wer wirklich wissen wollte, wie die sogenannten jungen Leute heute ihre Stars feiern, erfuhr es Mitte Juni live im Berliner Tempodrom. Wenn er es ertragen konnte.

Die Halle war nur halb voll, aber alle Anwesenden im 200-prozentigen Nicki-Modus, kein Abwarten, nur reine, blühende Affirmation. Die Musik lief vom Laptop, teilweise mitsamt dem Gesang, weshalb die Künstlerin - gelbe Bob-Perücke, Tutu in Regenbogenfarben - genug Zeit hatte, um die ersten Reihen abzuklatschen, Fan-Gemälde zu signieren, mit der Dampfkanone zu schießen, und keiner störte sich daran. Ein Konzert, völlig befreit von jeder Mühe um Authentizität und Kunstfertigkeit, ein gewaltiges Meet & Greet mit Lightshow und Partysalat. Wer das schlimm findet, soll sich erst mal richtig einloggen, bitte.

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2012 war ihr Jubiläum, Rückblick auf eine einzigartige, 50-jährige Pop-Dauerpräsenz. Die Helden selbst bequemten sich erst im November, irgendetwas zur Betriebsfeier beizutragen, umso großartiger wurde das Video zur neuen Single "Doom And Gloom", eine Fabel über den Dauerkampf gegen die Verführungen, mit Flugzeugabsturz, Zombies, Leben auf der Müllkippe oder in Saus und Braus, Sympathie für den Teufel oder braunem Zucker.

Und mittendrin, wie lurchige Hausmeister, die Stones, die bewiesen, dass Jubilare zu so viel mehr fähig sein können als zu Dankesreden über die Potenz von gestern: Heute gehören sie zu den Letzten, die wirklich kapieren, wo alles herkommt, was wir so haben. Sie kennen die Geschichte, und sie können auf ihr spielen wie auf einer alten Fender-Gitarre. Die weiblichen Hauptrolle in "Doom And Gloom" spielt übrigens Noomi Rapace, die Lisbeth Salander aus dem schwedischen "Verblendung"-Film. Womit wir wieder beim Anfang wären.

Fortlaufende Popkolumne der SZ:

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Quelle:
SZ vom 08.01.2013/jufw
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