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Die CDs der Woche - Popkolumne:Irre Energie aus altem Zauber

Über vierzig Jahre nach ihrer Gründung inspirieren die Progressive-Rocker von King Crimson noch immer etliche Musiker - vor allem, wenn sie Sehnsucht nach komplexen Strukturen haben. So wie den französischen Tausendsassa Médéric Collignon, der am Kornett zu überzeugen weiß. Sein neues Album und weitere Crimson-Hommagen stellen wir in unserer Popkolumne vor, die diese Woche sehr jazzig ausfällt.

Karl Lippegaus

King Crimson

Im vergangenen August gab der Gitarrist Robert Fripp in der Financial Times frustriert seinen Ausstieg aus dem Musikgeschäft bekannt. Der Kopf der Progressive-Rock-Band King Crimson hat nach jahrelangen Querelen mit Universal die Nase voll. Er will sich künftig lieber der Nachlasspflege widmen.

In diesen Tagen erscheint schon einmal ein Box-Set mit 14 CDs und vielen seltenen Liveaufnahmen der King-Crimson-Formation, die vor knapp vierzig Jahren das sagenhafte Album "Larks' Tongues in Aspic" einspielte.

Der Jazz war zwar nur ein Einfluss unter vielen für Fripp & Co., doch viele jüngere Jazzfans verehrten diese extrem raffinierte britischen Band. In Frankreich hatten Bands wie Pink Floyd, Soft Machine oder eben King Crimson Mitte der Siebzigerjahre riesige Fangemeinden.

Kein Wunder, dass sich jetzt sich in französischen Jazzkreisen eine Crimson-Renaissance andeutet. Ein fantastisches Album gibt es schon: "À La Recherche du Roi Frippé" (Just Looking) von Médéric Collignon, einem echten Tausendsassa - nicht nur am Kornett, sondern auch als Sänger.

Bei King Crimson konnten sich Stücke im 7/8-Takt oder im 5/8-Takt überlagern und plötzlich brach eine irre Energie hervor - während der Hörer noch grübelte, wie da die Fäden eigentlich zusammenliefen.

Die Sehnsucht nach komplexen Strukturen, das Bedürfnis Klischees zu vermeiden - all das trieb auch das vierköpfige Musikerkollektiv Caravaggio aus Paris in die Arme der britischen Artrocker.

In der Rückschau wird klar, warum ihnen jemand wie Robert Fripp viel mehr sagte als etwa Charlie Parker oder Dizzy Gillespie. Auf ihrem Album "Caravaggio #2" (La Buissonne) merkt man, dass die vier Musiker - wie das erste wilde Dutzend der Crimson-Musiker - alles aufsaugen, was ihnen interessant erscheint.

Der Kontrabassist Bruno Chevillon und der Drummer Éric Echampard sind im Avantgarde-Jazz bekannt, schwärmen aber auch für Led Zeppelin. Die andere Hälfte von Caravaggio besteht aus den Multi-Instrumentalisten Benjamin de la Fuente und Samuel Sighicelli. Diese Musik hat die intellektuelle Größe und Eklektik, die so typisch war für King Crimson.

So ganz verschwunden scheint Robert Fripp nicht zu sein. Gerade erscheint die zweite Zusammenarbeit mit dem Saxofonisten und Flötisten Theo Travis. In ihren neun Duos auf "Follow" (Panegyric) zeigt sich, wie weit Fripp seine Erforschung der elektrischen Gitarre mittlerweile getrieben hat: Oft klingt sie wie ein halbes Dutzend elektrisch verstärkter Celli, sehr atmosphärisch.

Dieses mystische Klangideal verbindet ihn mit jüngeren E-Gitarristen und Soundtüftlern wie Stian Westerhus und Christian Fennesz. Man fühlt sich gelegentlich wie nachts in feuchten alten Kirchgemäuern.

Schauerlich schön bewegt sich Travis' Sopransaxofon durch diese Klangwelten. Wirklich spannend wird es, wenn Fripp nicht nur Stimmung und Atmosphäre erzeugt, sondern auch à la Terje Rypdal die verzerrte Gitarre aufheulen lässt. Gleich ist der alte Zauber wieder da. Besonders in den beiden letzten Stücken "Rotary Symmetrical" und "So There".

Völlig unverhofft gibt es auch eine Hommage an King Crimson von Peter Brötzmann, dem deutschen Free-Jazz-Koloss aus Wuppertal. Auf dem Doppelalbum "Solo + Trio Roma" (Victo) ertönt jener apokalyptische Sound von Robert Fripps frühen Livealben wie "Earthbound".

Brötzmann bringt - wie einst Mel Collins - sein Tenorsaxofon fast zum Platzen, während Massimo Pupillo am E-Bass mit sehr schnellen Akkorden jenen sägenden Fripp-Klang erzeugt, aus dem die Funken sprühen. Und der phänomenale Paal Nilssen-Love an den Drums widerlegt das offenbar bis heute unausrottbare Klischee, dass improvisierte Musik auf Grooves und einen durchgängigen Puls verzichtet.

In den ruhigeren Momenten bläst Brötzmann wunderbar heisere Phrasen, die irgendwie an alte Songs von Bertolt Brecht und Kurt Weill erinnern. Kann es sein, dass man den rebellischen Geist der alten Jazzrocker heute vor allem bei den über 70-Jährigen findet? Das über einstündige "Music Marries Room To Room" legt diese Vermutung sehr nahe.

Die vorgestellten Titel lagen auf Spotify nicht vor, die Popkolumne bietet in dieser Woche ausnahmsweise keine Möglichkeit, in die Alben reinzuhören.

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SZ vom 14.11.2012/pak
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