Süddeutsche Zeitung

Die CDs der Woche - Popkolumne:Cowboys und Knarren

Seelen-Striptease in rauen Tönen: Auf ihrer zweiten Platte singt Mackenzie Scott alias Torres über ihre religiöse Kindheit. Und bei den Billboard Music Awards verstummt Kanye West. Unfreiwillig?

Von Annett Scheffel

Das Album der Woche hat einen merkwürdigen Namen: Ausgerechnet "Ratchet" (XL) heißt das Debütalbum des 20-jährigen Shamir Bailey, was so viel wie "Knarre" oder "Ratsche" bedeutet. Weil aber weder die Waffe noch das Werkzeug aus dem Maschinenbau als Assoziation für den House-infizierten Pop-R'n'B-Flickenteppich zu passen scheinen, muss man wohl am besten an das nervtötend-laute, schnarrende Instrument denken, das man beim Karneval in froher Erwartung der nächsten Kamellendusche in der Luft kreisen lässt. Kurzum: Es geht um den reinen Spaß, um die Unbeschwertheit durchtanzter Nächte: "Life's no answer / it's just one big guess", singt er dann auch, "so why not go out and make a scene?" - wenn es keine Antworten, sondern nur Vermutungen gibt, kann man ja auch mal einfach auf den Putz hauen.

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Inmitten frühsommerlicher Aufbruchstimmung ist das natürlich nie falsch. Wie der in Las Vegas aufgewachsene Bailey - gleichsam androgyner Posterboy, Punk im Geiste und potenzielle Post-Gender-Galionsfigur - hier aber Dance-Music-Versatzstücke so fröhlich zu Popsongs verknotet, das ist die Aufregung wert, die ihn seit seiner "Nothtown"-EP (2014) umgibt: Piano House hört man da, smarte Basslines - ein bisschen wie einst beim LCD Soundsystem - und vor allem den extravaganten Falsett-Gesang von Bailey, der unaufhörlich zwischen Drama-Show und der Verletzlichkeit junger Liebe wechselt. Lässiger hat man den Freiheitstanz der Adoleszenz schon lange nicht mehr erlebt.

Kanye West verstummt bei den Billboard Music Awards

Während Shamir sein Schwarz- und sein Mannsein völlig losgelöst von Geschlecht und Kulturgrenzen vortänzelt, ging es bei den Billboard Music Awards am Wochenende ganz konkret um den amerikanischen Rassismus. Von einer groß angelegten, hinterhältigen Zensur war die Rede, als während Kanye Wests von Pyrotechnik erleuchteten Auftritts (unter anderem spielte er "Black Skinhead") immer wieder der Ton verstummte. Ein Problem mit der Tonspur scheint es aber nicht gegeben zu haben. Also Sabotage einer Protest-Popshow? Möglich ist in Amerika ja bekanntlich einiges. Mittlerweile nähren Netzkommentare - und hier wird es wirklich interessant - aber ein ganz anderes Gerücht: Mister Black Yeezus höchstpersönlich zeichne für die stockende Akustik verantwortlich. Eine solche Meta-Performance, um auf den Umgang mit kritischen Stimmen aufmerksam zu machen, würde zu Kanye West passen. Und dazu, dass es über den Vorfall von ihm bislang noch keinen Kommentar gibt. Wäre es tatsächlich so vertrackt, dann darf man nach den ersten, eher schwachen Singles mit Paul McCartney und Rihanna vom kommenden Album "Swish" nun wohl doch manches erwarten.

Das Ass im Ärmel des amerikanischen Songwritings

Harten Stoff - wenn auch eher persönlichen als politischen - gibt es auch auf der zweiten Platte von Mackenzie Scott zu bestaunen. Unter ihrem Künstlernamen Torres veröffentlichte sie vor zwei Jahren bereits ein Album ganz ohne Plattenvertrag. Wie ein gewichtigeres, nachgeholtes Debüt wirkt jetzt "Sprinter" (Partisan/PIAS) mit seinen verschleppten Indie- und Folk-Kompositionen und den feinsinnigen Gesellschaftsstudien des Südstaaten-Lebens (Scoot wuchs in Georgia auf und studierte in Nashville). Die 24-Jährige lässt tief in ihre geschundene Seele blicken, wandelt einsam in ihr herum, seziert und demontiert ihre religiöse Kindheit. Im Titelstück etwa gibt es einen Pastor, der seinen Job verliert, weil er der Pornografie verfallen ist - "Lost his position / Went down for pornography", anderswo geht es um die abgeleistete Schuld des Cowboys: "Cowboy Guilt". Es sind wunderbar raue, einfache Songs wie Momentaufnahmen von cineastischer Schärfe. Wer in einem Gespräch über amerikanisches Songwriting ein Ass im Ärmel haben will, sollte sich den Namen Torres merken.

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Empfohlen sei aber auch unbedingt noch die neuseeländische Band Unknown Mortal Orchestra und deren drittes Album "Multi-Love" (Jagjaguwar). Auch wenn der Titel wohl ein Verweis auf eine komplizierte Dreiecksbeziehung von Sänger und Songwriter Ruban Nielson ist, passt er ebenso gut zu den üppig geschichteten Sounds des Albums. Disco-Beats und Power Pop, Prog Rock, Breakbeats und vor allem viel Soul. Das Erstaunlichste aber ist die Ohrwurmdichte: Trotz Nielsons ausgeprägten Drangs zum musikalischen Experiment sind hier mindestens sechs der neun Lieder Indie-Hits mit Melodien, die einen durch den ganzen Sommer bringen werden: "Like Acid Rain" etwa oder das Titelstück, das ganz nebenbei noch die schönste Heartbreak-Metapher der Woche liefert: "Multi-Love / Checked into my heart and trashed it like a hotel room."

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