Die CDs der Woche - Popkolumne:Abgeklärte Sehnsucht

Courtney Barnett erzählt mit trockenem Humor von den leisen Katastrophen des Alltags und bewirbt sich zugleich für den schönsten Albumtitel des Jahres. Und bei dem New Yorker Koch Action Bronson klingt Rap gleichzeitig putzig und lässig.

Von Annett Scheffel

Man hatte sich ja schon auf einiges gefasst gemacht, als Tocotronic ihr mittlerweile elftes Album ankündigten. Am 1. Mai soll der Nachfolger vom 2013 erschienenen "Wie wir leben wollen" (2013) veröffentlicht werden - ausgerechnet an dem Tag, der in ihrer Wahlheimat Berlin ja traditionell den fliegenden Steinen und ganz grundsätzlichem, bierseligem Dagegensein geweiht ist. Und dann war da noch das tiefrote Cover. Ein namenloses, ein "rotes Album" also am Tag der Arbeit. Oh, ha. Nun also doch wieder ein Diskurspop-Frontalangriff? Nein.

Denn als nun mit "Prolog" endlich die erste Single zu hören war, wusste man gleich: Das Rot muss etwas anderes bedeuten. Zart-schwebende, flimmernde Melodien und minimalistische Gitarrenklänge ziehen sich durch das Stück. Und auch in den Textzeilen fehlt es an Material für zornige junge Männer. Man spürt "die Gifte im System" vielleicht noch, will aber "nur den Abend überstehen". Mit den ersten Zeilen, die Sänger Dirk von Lowtzow uns da entgegenraunt, sind wir zitternd in der Fremde aufgewacht: "Du weißt nicht was dich geritten hat / In diese tote Küstenstadt". Es ist einer dieser wundersamen Orte, wie sie in der deutschen Popmusik niemand so bezaubernd beschworen hat wie der Verrätsellungskünstler Lowtzow.

Und weil ein "Prolog" eben immer auch einführen muss in das, was noch kommen mag, pocht irgendwann auch die entscheidende Frage von innen gegen die Schädelplatte: "Du zitterst noch und hörst in dich hinein / Was könnte das Ereignis sein?" Für die neue Platte - und für wahrscheinlich fast alle anderen Lebensfragen - lautet die Antwort am Ende des Songs dann schlicht: "Liebe wird das Ereignis sein." Jetzt, wo wir das wissen, machen wir uns also lieber auf noch mehr gefasst.

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Um Liebe geht es wohl auch auf dem dritten Album der walisischen Popsängerin Marina Diamandis, besser bekannt unter dem Namen Marina & The Diamonds. Allerdings kann man sich bei "Froot" (Warner) nie so sicher sein, weil Gefühle hier lieber in ziemlich lächerliche, präpubertäre Metaphern verlegt werden. Im Titelstück gibt es die Frucht, die darauf wartet gepflückt zu werden: "Baby, I am plump and ripe / I'm pinker than shepherds delight" - prall und reif und so pink wie die Abenddämmerung. Hm. Und so wie hier klingt das Album mit seinen Achtziger-Elektro-Ballerbeats und Disco-Anleihen an vielen Stellen: merkwürdig künstlich und verkrampft, als hätte man die einfallslosen Melodien mit einer dicken Schicht Zucker überzogen, um Makel zu überdecken.

Marina & The Diamonds Froot

"Froot" von Marina Diamandis

(Foto: Warner)

Schade ist das vor allem, weil die Platte mit der verhallten Piano-Ballade "Happy" vielversprechend beginnt. Nach ihrem Debüt "The Family Jewels" 2010 war Diamandis ja schon einmal ein großes Pop-Versprechen. Die übrigen elf Songs des neuen Albums braucht dann leider doch wieder kein Mensch.

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Glücklicher macht "Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit" (Marathon Artists/House Anxiety), das neue Album der australischen Sängerin und Songwriterin Courtney Barnett, das sich auch gleich für den schönsten Albumtitel des Jahres bewirbt. Wie zuvor schon in den kauzigen und entzückend lässig verschleppten Songs "Avant Gardener" und "Pedestrian At Best" liegt auch die neue Single "Depreston" irgendwo in der Mitte zwischen Indiepop und Folk. Wie in den besten Liedern (und im wahren Leben) ist es in den Stücken der 24-Jährigen immer ein bisschen schmutzig - sei es von Gartenarbeit, Masturbation oder den kleinen Abgründen moderner Beziehungen.

Courtney Barnett Depreston

Wie viele ihrer Songs klingt auch "Depreston" von Courtney Barnett ein bisschen schmutzig.

(Foto: Marathon Artists/House Anxiety)

Barnett erzählt in "Depreston" mit trockenem Humor von den leisen Katastrophen des Alltags, wie der deprimierenden Wohnungssuche in einem Vorort von Melbourne, einer trostlosen, leeren Gegend, die man in den ruhigen, einsam flirrenden Gitarren zu spüren glaubt. Und weil Barnett ein gutes Auge für Details hat kommen in der besichtigten Wohnung dann langsam die Fragmente eines anderen, eines vergangenen Alltags zu Vorschein: ein Handlauf in der Dusche, Mehldosen, "and a photo of a young man in a van in Vietnam". Man muss es wohl abgeklärte Sehnsucht nennen.

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Näher rückt auch "Mr. Wonderful", die neue Platte des New Yorker Kochs und Rappers Arian Asllani alias Action Bronson. Der mampfende Koloss reitet er auf seinen Covern gerne als Comic-Held auf Laserschwert-Haien durchs Weltall. Mit "Baby Blue" erschien nun die vierte Vorab-Single. Zu schwungvoll-hüpfenden Piano-Beats rappt Bronson darauf über ein Mädchen, dem er vor lauter gebrochenem Herzen Papercuts wünscht, geschüttelte Sodaflaschen und ganz viel Schnee in der Einfahrt. Gab's das schon: Rap, der gleichzeitig putzig und lässig ist?

Action Bronson Baby Blue

"Mr. Wonderful" von Action Bronson

(Foto: Atlantic/Vice Records)

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