Die besten Werbespots: Cannes Lions 2011:Ihr seid Helden

Zwischen gezielter Desorientierung und Sinnsuche in der postmodernen Wertewüste: In Cannes wurden die besten Werbespots des Jahrgangs 2010 gekürt. Der "Grand-Prix" ging an Nikes starbesetzten Mikro-Epos "Write the Future". 14 weitere Preise wurden vergeben, denn wer noch kein Held ist, kann es ja noch werden.

Susanne Gmür

Große Worte sind des Werbers täglich Brot. Und weil es mehr Waren und Werber als große Worte gibt, muss auch der Superlativ ständig noch gesteigert werden. Gerade so, wie wenn Kinder sich spielerisch übertrumpfen und eine Eigenschaft kurzerhand multiplizieren: Ich bin zehnmal, ich bin hundertmal, ich bin tausendmal der Beste. Es gewinnt, wer am Höchsten bietet, egal was für ein Blatt er hat.

Nike Werbespot "Write the future"

Ende Juni wurden in der 58. Ausgabe der Cannes Lions die besten Werbespots prämiert. Der Hauptpreis ging an die niederländische Agentur Wieden+Kennedy. Das Bild zeigt einen Wayne Rooney, der albträumt, unrasiert im Wohnwagen zu leben, wenn er sich nicht den Ball zurückerobern kann. Zu sehen ist diese Szene in "Write the Future".

(Foto: canneslions.com)

"Gezielte Desorientierung" nannte der Soziologe Richard Sennett die Werbung, und lässt das schon fürs frühe neunzehnte Jahrhundert gelten, als Waren in den neu entstehenden Kaufhäusern möglichst verführerisch drapiert wurden: Sogar der Kochtopf erscheint in tropischem Ambiente als exotisches Versprechen. Und wer weiß, womit die Marktschreier vor Urzeiten ihre Ware anpriesen? Dass sie dabei nicht immer nur auf die Frische des Fisches und seinen günstigen Preis hinwiesen, ist mehr als wahrscheinlich.

Unterdessen aber ist die oft beklagte Desorientierung des hiesigen Menschen so weit fortgeschritten, dass alle Ressourcen aufgeboten werden, um den Schlamassel wieder zu beheben. Da packt auch die kreative Kommunikationsbranche dankbar mit an, die schließlich davon lebt, dass es dem Menschen an irgendetwas mangelt. Die Werbung übernehme heute, schreibt der Soziologe Hubert Knoblauch in "Populäre Religion" (2009), neben einer ästhetischen auch eine orientierende, sinngebende Funktion. Der Konsument wird nicht nur durch die Warenschwemme, sondern auch durch die postmoderne Wertewüste geleitet.

Solche Orientierungshilfe entfernt die Werbung nicht mehr nur vom eigentlichen Gebrauchswert des Produkts, sondern auch von seinen ästhetischen Qualitäten. Die Mythen ranken sich nicht mehr um das Waschmittel, das Waschmittel ist bloß noch Anlass und Geldgeber, um überhaupt welche zu bilden.

Man befolgt damit Horaz' uralten Rat, dass sich der Kaufmann durch zu großes Rühmen die Ware nur verdächtig mache, sowie jenes Diktum, das Leo Burnett - ein früher Don Draper und Erfinder des Marlboro-Man - so formuliert hatte: "Sagt den Leuten nicht, wie gut ihr die Güter macht, sagt ihnen, wie gut eure Güter sie machen." Schaut man sich die Spots des Jahres 2010 an, die kürzlich beim Werbefestival "Cannes Lions" als die besten ihres Jahrgangs preisgekrönt wurden, scheint das bloße Gutmachen allerdings bereits nicht mehr zu reichen: Helden sollen sie sein, und wenn sie es noch nicht sind, dann können sie es noch werden.

Den "Grand Prix" in der Kategorie Film erhielt der WM-Werbespot von Nike: "Write the Future" steigert den Slogan "Just do it" ins Unermessliche, in die ungewisse Zukunft, die man sich träumerisch als Paradies ausmalt. Ob es sich verwirklicht, das hinge, so die verantwortliche niederländische Agentur Wieden+Kennedy, oft von Sekundenbruchteilen in der Gegenwart ab: Ein Goal, ein Pass, ein Tackling könne entscheiden zwischen ewigem Ruhm - und dem Absturz ins Meer der Vergessenen.

Wenn Wayne Rooney Franck Ribéry, der sich in der 90. Minute gerade den Ball erobert hat, nicht stoppen kann, wird er verhöhnt werden, muss als Spielplatzwart arbeiten und lebt unrasiert in einem Trailerpark, derweil die britische Wirtschaft zusammenbricht. Albträumt Wayne. Also erkämpft er sich den Ball zurück, und also passiert das Gegenteil: die Wirtschaft boomt, er wird von der Queen zum Ritter geschlagen und gewinnt im Ping-Pong gegen Roger Federer.

Nach getaner Arbeits gibt's ein Heineken

Fabio Cannavaro-- Gnade seiner italienischen Sozialisierung - hat gar nicht erst Angst vor dem Versagen: Souverän verhindert er mit einem Fallrückzieher im letzten Moment ein Tor von Didier Drogba, der - Afrika: Wiege der Menschheit - den Ball zu Beginn des dreiminütigen "Fußballkrimis" aus dem Himmel empfängt. Genüsslich lässt er sich von einem greisen Schlagersänger besingen und von halbnackten Mädchen umtanzen.

Protagonist der dritten Sequenz dieses "Epos" unter der Regie von Alejandro González Iñarritu ist schließlich Cristiano Ronaldo, der von der Verfilmung seiner Lebensgeschichte mit Gael García Bernal träumt - und einem Besuch bei Homer Simpson. Damit seine Träume wahr werden, muss er den Freistoß versenken: Er setzt an, Schnitt, "Write the Future"! Ein Open End, wie es sich fürs große Kino gehört. Dazu eine Masse an Stars und ein Budget, das jenes von Iñarritus Kino-Debüt "Amores Perros" (zwei Millionen US-Dollar) bei weitem übersteigt. Die Zukunft schreiben, das sollen aber nicht nur die Schon-Stars, sondern auch all die kleinen Fußballer auf dieser Erde: Nike gibt ihnen "The Chance" - so heißt das laufende Marketing-Programm, das in verschiedenen Ländern unentdeckte Ball-Talente fördern will.

Goldene Löwen gab's für 14 weitere Spots, und alle erzählen sie von Helden. Bei einer Diplomaten-Feier brilliert ein No-Name mit charmanter und weltläufiger Kompetenz, hält jedem Kulturvertreter das passende Talent entgegen, von Basketball über Kung Fu, Zaubertricks, Artistik und Tanzen bis zum virtuosen Querflötenspiel - und nach getaner Arbeit gibt's ein Heineken.

Auch der junge Bursche, der von seiner Freundin erstmals der Familie vorgestellt wird, hat für alle etwas zu bieten: Er liebt das Gitarrenspiel wie die Großmutter, fusioniert Tango nach dem Geschmack des Bruders mit Rock, der Mutter macht er Komplimente für die Suppe, dem kleinen Bruder zaubert er ein Origami-Dino, und studieren tut er dasselbe wie der Vater, nämlich Neurochirurgie - er ist "loved by everybody". Das soll auch für das H2Oh-Wasser gelten, das auf dem Tisch steht.

Die "Carlton Draught"-trinkenden englischen Jungs im Pub dagegen, dick, hässlich, trottelig, eignen sich scheinbar nicht zum Heldentum, aber mit Super Slow Motion und Operngesang, wie es Lars von Trier in "Antichrist" vorgemacht hat, lassen sogar sie sich zu Filmstars adeln.

Selbst den schmächtigen, frühreifen Teenagern, die beim Anblick hübscher Frauen eine anormale Schweißproduktion im Stakkato eines unfreiwilligen Samenergusses entwickeln, kann geholfen werden - mit Axe, das ihre "Premature Perspiration" kontrolliert. Und während die jungen Angestellten einer Großstadt von der Firma Puma zur "Afterhour-Prominenz" und zu nächtlichen Champions von Darts, Tischtennis oder Kegeln ernannt werden, soll ein Nasenspray jenes Mädchen retten, das von der Lehrerin zur Idiotin erklärt wird, weil es durch den offen stehenden Mund atmet, und darf ein kleiner Junge, verkleidet als Darth Vader, der zunächst vergeblich versucht hatte, die Wirkung seiner übersinnlichen Kräfte zu realisieren, am Ende dank Papa daran glauben, dass der VW seinetwegen den Motor gestartet hat.

Darth Vader könnte freilich auch einen Audi zum Laufen bringen, der Party-Held triumphierend ein Carlton Draught trinken, die Kegler könnten Nike statt Puma und die Fußballstars Puma statt Nike tragen. Viel wichtiger ist: Ob jung oder alt, männlich oder weiblich, von hier oder von dort - alle sollen, dürfen, können Gewinner sein. Die Zukunft der Menschheit wird von Werbern geschrieben, als Heldengeschichten, die endlos erzählt und wiederholt werden können.

Begleitet von unaufhörlichem Augenzwinkern, selbstverständlich! Während wir weiterträumen, zu teure Turnschuhe und zu viel versprechende Deodorants kaufen, um Bierbauch und Achselgeruch unter Kontrolle zu halten. Damit das Karussell sich weiterdreht. Denn dass der Siegerspot "Write the Future" vom Prog-Rock-Jodel-Song "Hocus Pocus" der niederländischen Siebziger-Jahre-Band "Focus" begleitet wird, lässt erahnen, dass im Westen auch in Zukunft mit nichts Neuem zu rechnen ist.

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