"Die Außenseiter" von Philipp Ther:Wie Flucht und Migration einen ganzen Kontinent prägen

Anarchie und Wetter treibt Flüchtlinge nach Libyen

Ein ganzer Kontinent als permanentes Durcheinander - so stellt Philipp Ther die großen Wanderungen vom frühen 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart dar.

(Foto: dpa)

Der Historiker Philipp Ther analysiert die Flüchtlingsbewegungen im modernen Europa. Mit seinem Buch raubt er jedem Nationalisten die Argumente - und kommt damit genau zur rechten Zeit.

Von Thomas Steinfeld

Selten waren in der jüngeren Geschichte die Jahre, in denen in Europa keine Völkerschaften unterwegs waren, auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung oder auch, weil das Leben an anderen Orten so viel besser zu sein schien als dort, wo man gerade noch zu Hause gewesen war. Im Jahr 1974 begann eine solche Periode der relativen Sesshaftigkeit, nachdem auf Zypern die Vereinten Nationen eine Grenze zwischen den griechischen und den türkischen Bewohnern gezogen hatten, in deren Folge mehr als 150 000 griechische Zyprer in den Süden und knapp 50 000 türkische Zyprer in den Norden geflohen waren.

Nun schien für eine Weile Ruhe zu herrschen - abgesehen von der halben Million Polen, die nach der Ausrufung des Kriegsrechts in den Westen gingen, abgesehen von den Hunderttausenden mit deutschen Vorfahren, die aus der Sowjetunion oder aus Rumänien ins Land ihrer meist weit zurückliegenden ethnischen Herkunft umsiedelten, und abgesehen erst recht von der Massen-Auswanderung aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Große Teile der europäischen Bevölkerungen sind derzeit für ihre jeweilige Nation entbrannt

Der geschichtsphilosophische Optimismus der Nachkriegszeit jedoch war nicht zu beeindrucken. So stabil schienen die Verhältnisse geworden zu sein, dass sich im Zuge der "europäischen Einigungsbewegung" sogar der Glaube verbreitete, es nehme mit dem Nationalismus bald ein dauerhaftes Ende. Nicht einmal die jugoslawischen Bürgerkriege konnten offenbar, zunächst jedenfalls, diese Hoffnung widerlegen, der Flucht von Hunderttausenden Bosniern, Serben, Montenegrinern oder Kosovo-Albanern in die Staaten der Europäischen Union zum Trotz.

Als der Glaube dann doch preisgegeben wurde, spätestens mit dem Beginn der Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, war die Wirkung allerdings umso heftiger: Große Teile der europäischen Bevölkerungen scheinen nunmehr in heftiger Leidenschaft für ihre jeweilige Nation und deren einheimisches Volk entbrannt zu sein - und in mindestens ebenso heftiger Abneigung gegen alle mittellosen Menschen, die von irgendwoherkommen und sich in dem Land niederlassen wollen, das die Eingeborenen für ihr eigenes halten.

Der Wiener Historiker Philipp Ther legt in diesem Herbst ein Buch vor, das geeignet wäre, den vielen Menschen, die gegenwärtig ihr Vaterland (welches auch immer) vor den hereindrängenden Fremden schützen möchten, den Boden der Argumentation zu entziehen - wenn sie denn nur zuhören wollten, um vom Verstehen gar nicht erst anzufangen. Jedenfalls ist dieses Werk eine ebenso umfassende wie detaillierte Darstellung der großen Wanderungen, die vom frühen 16. Jahrhundert - der Vertreibung der Muslime aus Spanien - bis in die Gegenwart den gesamten Kontinent prägten.

"Die Außenseiter" von Philipp Ther: Philipp Ther: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 438 Seiten, 26 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Philipp Ther: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 438 Seiten, 26 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Was man, inspiriert nicht zuletzt von der Geschichtswissenschaft selbst, gern für einen halbwegs stabilen politischen und kulturellen Raum halten möchte, einen Raum zudem, dessen staatliche Gliederung sich über die Jahrhunderte in mehr oder weniger kontinuierlichen Linien vollzog, zerfällt in diesem Buch in eine endlose Zahl von Einzelbewegungen: Der ganze Kontinent stellt sich nun als ein permanentes Durcheinander dar, in dem jede einzelne Bewegung für das Leben von Millionen Menschen steht. Zudem vollziehen sich diese Bewegungen keineswegs nur kontinuierlich - also von der Flucht zur Integration -, sondern stellen sich oft fragmentarisch dar, sie scheitern oder werden zurückgenommen; sie enden ganz anders als ursprünglich gedacht, etwa dann, wenn die Flucht über Jahrzehnte und über mehrere Länder hinweg verläuft.

"Heute sind wir tolerant, morgen fremd im eigenen Land", singt eine deutschnationale Rockgruppe namens Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten, und die Politiker der dazugehörigen und nunmehr im Bundestag vertretenen Partei zitieren manchmal diesen Vers. Bei Philipp Ther lässt sich hingegen lesen, was es historisch mit der Formulierung "fremd im eigenen Land" auf sich hat, von den Hugenotten (etwa 20 000 Menschen allein nach Preußen) über die Ruhrpolen (knapp eine halbe Million) bis zu den Arbeitsmigranten und deren Nachfahren (zehn Millionen und mehr), wobei selbst so große Zahlen noch übertroffen werden von den mindestens zwölf Millionen "Vertriebenen" (Sprachgebrauch West) oder "Umsiedlern" (Sprachgebrauch Ost), die nach dem Zweiten Weltkrieg in den beiden deutschen Staaten unterkamen - als Teil einer militärisch und politisch initiierten Völkerwanderung, die in ganz Europa insgesamt mehr als zwanzig Millionen Menschen ergriff.

Das "eigene Land", das die neuen Deutschnationalen verteidigen wollen, ist eine praktisch gewordene Abstraktion von eher geringer Beständigkeit. Aber bringt man mit einem solchen Argument einen militanten Deutschnationalen von dem Gedanken ab, für Volk und Vaterland den Notstand auszurufen, um die eingebildete Heimat in ihrer kulturellen und womöglich auch ethnischen Reinheit um jeden Preis zu verteidigen?

Thers Buch ist ein wissenschaftlich fundierter Einspruch

Ein Historiker kann sagen, was war und was ist. Politisch argumentieren kann er deswegen nicht. Diese Differenz wird hier zu einem Dilemma: Denn selbstverständlich ist Thers Buch ein wissenschaftlich fundierter Einspruch gegen die längst in die politische Praxis übergegangenen nationalen Fantasien, die derzeit nicht nur die sogenannten Rechtspopulisten, sondern auch die bürgerlichen Parteien umtreiben. Doch kommt die Überzeugung, das Vaterland und sein Volk seien etwas Einzigartiges und unbedingt Verehrungswürdiges, sehr gut ohne historische Kenntnisse aus. Mehr noch: Beflügelt von der Überzeugung, die gesamte bürgerliche Politik betrüge die echten deutschen Staatsbürger um die ihnen zustehende privilegierte Behandlung, verstehen die sogenannten Rechtspopulisten den gewählten Staatsapparat und dessen Institutionen als eine Verschwörung von Opportunisten, Karrieristen und Weichlingen.

Leseprobe

Als Beleg für diesen Glauben vermag jeder Euro zu dienen, der etwa für die Unterstützung von Flüchtlingen ausgegeben wird: Dieses Geld hätte selbstverständlich einem echten Deutschen zugestanden. Ein solches Verhältnis zur Politik aber versteht sich von Grund auf als moralisch. Und es mündet, nunmehr auf allen Ebenen demokratisch legitimiert, in einen Versuch, die Nation neu zu definieren: "Deutschland zuerst", wobei das Wort "zuerst", wie in allen derartigen Fällen, keinen Vergleich mit einem "Zweiten" oder "Dritten" markiert, sondern absolut verstanden werden will, als "Deutschland allein".

An Material zur Erhärtung seines Glaubens fehlt es dem neuen Deutschnationalen deswegen nie. Er muss sich nur umschauen: Wo immer etwas für "die Außenseiter" getan wird, ist die Nation verraten - und als Verratene erhält sich die Nation, aller Empirie und aller Geschichtswissenschaft zum Trotz, weshalb die überall beschworene "nationale Identität" denn auch hauptsächlich in Abgrenzungen nach außen besteht und ohne innere Bestimmung behauptet werden kann.

Den sachlichen Ertrag des Buches nimmt dieser Einwand nicht zurück. Aber er relativiert dessen politische Dringlichkeit. Diese Einschränkung gilt besonders für die Passagen, in denen Ther über die Vorteile spricht, die zu gewissen Zeiten mit der Einwanderung von Flüchtlingen verbunden waren, bei den Hugenotten etwa, die in den Ländern, in denen sie sich ansiedelten, zur Entfaltung von Verwaltung und Industrie beitrugen - oder auch bei den Flüchtlingen aus dem Osten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westen gekommen waren und dort am Wiederaufbau teilhatten: "Entgegen allen Integrationsängsten waren Flüchtlinge (und andere Migranten) historisch betrachtet fast immer eine Bereicherung für die Länder, die sie aufnahmen." Aber wer wollte mitrechnen, wenn fünf Vorteile gegen drei Nachteile abgewogen werden - denn ist, wer so kalkuliert, nicht längst Teil jenes Bewertungsverfahrens, in dem sich die bürgerlichen Parteien und die neuen Deutschnationalen einig sind, nur dass sie dafür unterschiedliche Kriterien kennen?

Die Einschränkung gilt mehr noch, wenn abgewogen wird, unter welchen Bedingungen eine Integration gelingt. Ein offener Arbeitsmarkt erweist sich als nützlich, ferner eine Solidarität zwischen den aufnehmenden und den ankommenden Völkerschaften, sei diese nun politischer, kultureller oder ethnischer Art, belastbare soziale Netze unter den Flüchtlingen - lauter Verhältnisse mithin, die gegenwärtig eher selten zu finden sind. All diese Befunde mögen historisch richtig sein. Sie behandeln aber das Gegebene als das Normative und provozieren eine politische Interpretation, die Flüchtlinge nach Opportunitäten sortiert, während die Flucht einer solchen Bewertung eben nicht unterliegt.

Wichtiger, als von den Vorteilen der Einwanderung zu reden, ist die Kritik des Nationalismus

Und so ist es zwar richtig, wenn Philipp Ther erklärt, politische und ökonomische Gründe einer Flucht seien oft kaum auseinanderzuhalten. Genauso richtig aber ist auch, dass Armut sehr wohl ein Grund ist, die Sachen zu packen und in ein anderes Land zu gehen - und dass die Beurteilung einer Flucht nach Maßgabe der Arbeitsmöglichkeiten im neuen Land allenfalls eine sekundäre Überlegung darstellt.

Zu Recht schreibt Philipp Ther im Vorwort, Flüchtlinge seien "schon immer als Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Probleme ge- und missbraucht" worden. Viele der Feinde, die Flüchtlinge in Deutschland haben, kommen ohne persönliche Erfahrungen aus, selbst Migranten betreffend. Für ihre Idee, man bräuchte eine von Grund auf erneuerte deutsche Nation, müssen sie nicht kennen, was sie für grundsätzlich fremd halten wollen. Wichtiger als von den Vorteilen der Einwanderung zu reden, erscheint es deswegen, diesem Nationalismus zu widersprechen und zu erklären, warum damit welche Interessen verfolgt werden. Philipp Thers Buch über die Geschichte der Flüchtlinge im modernen Europa liefert Stoff für eine solche Diskussion. Wirklich entstehen aber muss sie erst noch.

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