"Die Ausgrabung" auf Netflix:Erotik der Erde

Lesezeit: 3 Min.

Die Witwe Edith Pretty (Carey Mulligan) vermutet auf ihrem Landsitz einen uralten Schatz. (Foto: Larry Horricks/AP)

Carey Mulligan und Ralph Fiennes entscheiden sich in "Die Ausgrabung" gegen eine Affäre und für die Archäologie.

Von David Steinitz

Für alle, denen der Lockdown-Zynismus schon die Synapsen zum Empfang zarter Emotionen durchgebrannt hat, ist dieser Film definitiv nichts: Die müssen leider etwas anderes anschauen. Wer sich aber noch ein Stückchen Restromantik bewahrt hat, kann bei diesem Film in wohlig warmer Melancholie versinken.

"Die Ausgrabung" ist eine Netflix-Produktion. Sie folgt aber nicht der dramaturgischen Hektik des Streaming-Zeitalters mit seiner manischen Fixierung auf extrovertierte Erzählweisen und Storywendungen, sondern mehr dem Genre des klassischen Hollywood-Melodrams.

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1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, engagiert die vermögende Witwe Mrs. Pretty (Carey Mulligan) den Hobbyarchäologen Basil Brown (Ralph Fiennes). Er soll die geheimnisvollen Hügel auf ihrem weitläufigen Landsitz Sutton Hoo an der englischen Ostküste untersuchen. Brown ist keiner dieser studierten Stubenhocker aus London, er hat keine abgeschlossene Ausbildung und bezeichnet sich selbst auch nicht als Archäologe, sondern lieber als "Ausgräber". Seine Haut ist vom britischen Wetter gegerbt, seine Hände sind rissig von der Erde.

Der Mann verkörpert ein Grantlertum, zu dem nur Briten und Bayern fähig sind

In der verregneten englischen Provinz im Boden zu buddeln, ist natürlich maximal weit von der Indiana-Jones-Abenteuerromantik entfernt, mit der Archäologen in Filmen sonst gern gezeigt werden. Der wunderbare Ralph Fiennes, der Basil Brown spielt, verstärkt diesen Eindruck auch mit vollem Tweedsakko-Einsatz und einem Grantlertum, zu dem nur Briten und Bayern fähig sind.

Es hat diesen Mann wirklich gegeben, der Film beruht auf einer wahren Begebenheit, auch wenn die Geschichtsschreibung Basil Brown lange ignoriert hat. Denn wie so oft im Leben schnappen die Stubenhocker den Leuten, die für sie im Boden buddeln, gern den Ruhm für ihre mühselige Arbeit weg - und Browns Entdeckungen waren eine Sensation: Er legte in Sutton Hoo ein angelsächsisches Bootsgrab aus dem siebten Jahrhundert frei. Ein ganzes Schiff, das als Grabkammer eines Herrschers mit Rüstungen und Schmuck vergraben worden war.

Schicht für Schicht legte Basil Brown 1939 ein angelsächsisches Bootsgrab aus dem 7. Jahrhundert frei. (Foto: Larry Horricks/Netflix)

Inszeniert wurde "Die Ausgrabung" vom australisch-schweizerischen Regisseur Simon Stone. Der 36-Jährige ist ein etablierter Theatermann, wurde für seine Inszenierungen in Basel, Wien und München gefeiert. Zum Beispiel für seine Tschechow-Adaption der "Drei Schwestern" am Münchner Residenztheater 2019.

Zuletzt gab es allerdings Krach zwischen dem Residenztheater und Stone, weil er eine Eröffnungspremiere hätte inszenieren sollen und dann in letzter Minute absprang, um "Die Ausgrabung" für Netflix zu machen. Das Stück ist er den Münchnern noch schuldig und wird es auch nach dem Lockdown nachholen, die Proben laufen. Aber wer hätte schon Nein zu einer Zusammenarbeit mit Ralph Fiennes und Carey Mulligan gesagt?

Der Film sollte Münchner Theatergänger für die Wartezeit aber durchaus entschädigen. Stone hat ein tolles Händchen für diese Geschichte. Er weiß genau, wie man im melancholischen Klima des englischen Hinterlandes mit seinen nebelverhangenen Feldern und Wolkenbrüchen, die zur romantischen Einkehr zwingen, eine filmreife Kulisse in Jane-Austen-Tradition schafft. Und er weiß ebenso genau, wann der Zeitpunkt für eine sanfte Subversion des klassischen Melodrams gekommen ist.

Während der ersten Filmminuten denkt man noch, der alte Ausgräber und die junge Witwe, die ihn engagiert, werden garantiert zusammen im Bett landen - so wie es das Hollywoodgesetz seit Generationen verlangt. Aber auch wenn es im Verlauf des Films zumindest unter den Nebenfiguren noch eine kleine Romanze gibt, interessiert Stone sich für diesen Aspekt nicht sonderlich.

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Das lächerliche, hoffnungslose Strampeln der Menschen lässt sich für einen magischen Augenblick anhalten

Er möchte stattdessen von zwei Menschen erzählen, die kurz vor dem Ausbruch eines Krieges, der ein Kulturbruch werden sollte, wie ihn die Menschheit noch nicht gekannt hatte, sich nicht auf einer erotischen Ebene begegnen. Sondern auf einer Ebene der Kulturliebe und Menschlichkeit, die im krassen Gegensatz zu der Barbarei steht, die noch folgen sollte.

Allen Figuren dieses Films rennt die Zeit davon, im Großen wie im Kleinen. Drohend donnern die Militärflugzeuge über die Ausgrabungsstätte; drohend tönen auch die Nachrichten aus dem Radioapparat, berichten von einem Überfall auf Polen, von einem Ultimatum der Briten an die Deutschen. Und das alte Schiff im Boden, an dem die Jahrhunderte genagt haben, droht bei jedem Handgriff einzustürzen wie ein Sandschloss.

Aber Mr. Brown verliert nie die Geduld, selbst als aus London ein Archäologentrupp von Besserwissern anreist, der ihm die Sache aus der Hand nehmen will. Auch seine Auftraggeberin, die verwitwete Mrs. Pretty, wartet mit einem Stoizismus im Liegestuhl neben dem Schiffsskelett, das er für sie aus der Erde holt, als würde die tödliche Krankheit, von der sie gezeichnet ist, keine Rolle spielen.

Allen Menschen auf der Welt rennt die Zeit davon, aber diese beiden wissen, dass der große Trost der Archäologie eben nicht in den Schätzen liegt, die man eventuell zutage fördert, und auch nicht in dem Ruhm, den man dafür einheimsen könnte.

Sondern dass in dieser merkwürdigen Begegnung der Vergangenheit mit der Gegenwart, die beim Ausgraben entsteht, ein Fenster sich öffnet, in dem all das lächerliche, hoffnungslose Abmühen und Strampeln der Menschen bedeutungslos wird: weil für einen kurzen, magischen Moment die Zeit keine Rolle mehr spielt.

The Dig, GB/USA 2020 - Regie: Simon Stone. Drehbuch Moira Buffini nach dem Roman von John Preston. Kamera: Mike Eley. Mit: Ralph Fiennes, Carey Mulligan, Lily James. Netflix, 112 Minuten.

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