"Die Anonymen Romantiker" im Kino:Wo das wahre Leben unerträglich ist

Extreme Gefühlsreaktionen: Eine Frau, die bei emotionalem Aufruhr in Ohnmacht fällt, und ein Mann, der bei geringster Bedrängnis in Schweiß badet. In der zärtlichen Liebeskomödie "Die Anonymen Romantiker" wird Schokolade wie gewöhnlich zu Pralinen verarbeitet, das Konfekt entwickelt aber auch eine lebensphilosophische Dimension.

Anke Sterneborg

Wenn man Jean-Pierre Améris im Gespräch begegnet, möchte man nicht glauben, dass dieser hochgewachsene, ruhige Mann ein Problem mit seiner Hochempfindsamkeit haben könnte - dass er also selbst einer jener anonymen Romantiker ist, um die er in seinem gleichnamigen Film eine zarte Lovestory gesponnen hat. Jedenfalls muss er nicht wie sein Held - zum Beispiel beim abendlichen Diner im Restaurant - sich in Kürzestabständen ins Badezimmer zurückziehen, um sein verschwitztes Hemd eilig gegen ein frisches auszutauschen.

Themendienst Kino: Die Anonymen Romantiker

Beim Treffen in der Selbsthilfegruppe: Isabelle Carré (Mitte) als Angelique in der Liebeskomödie "Die Anonymen Romantiker" von Jean-Pierre Améris.

(Foto: dapd)

Vor zehn Jahren aber, räumt Améris ein, wäre er noch nicht fähig gewesen, so einen Film über seine eigene Befindlichkeit zu machen - lange hat er dafür bei seinen Sitzungen der Anonymen Hochsensiblen Fakten und Details gesammelt. Die Orte, die ihm aus seiner Kindheit in Lyon vertraut sind, überzieht er nun mit dem magischen Licht jener amerikanischen Studiofilme, die ihn als Jugendlichen oft getröstet hatten, er taucht sie in die warmen Farben, die die französischen Musicals Jacques Demys in den Sechzigern zum Leuchten brachten. Er liebt die Art, wie Demy seine eigene, kleine, fast kindliche Welt erschaffen hat.

Im kleinen Universum des Jean-Pierre Améris kann das, was im wahren Leben quälend und unerträglich ist, einen besonderen Charme entfalten. Eine Frau, die beim kleinsten emotionalen Aufruhr in Ohnmacht fällt, und ein Mann, der bei geringster Bedrängnis in Schweißausbrüche verfällt, werden da zu den Helden einer zärtlichen Liebeskomödie, in der sich ihre Unzulänglichkeiten auf wundersame Weise in Qualitäten verwandeln.

Ein Bewerbungsgespräch ist schon für normale Menschen eine Herausforderung, für Jean René, den Besitzer einer vom Bankrott bedrohten Pralinenmanufaktur, und Angélique, die einen Job als Chocolatière sucht, stellt es eine schier unüberwindliche Hürde dar, die durch eine gewisse Anziehung zwischen den beiden ins Unermessliche gesteigert wird. Benoît Poelvoorde und Isabelle Carré spielen diese beiden zagenden und zaudernden, tastenden und taumelnden Menschen auf berührende Weise - und fangen kühn auch noch zu singen an.

Die Sinnlichkeit des Pralinenmachens befeuert die Romanze, so wie sie das schon in "Chocolat" zwischen Juliette Binoche und Johnny Depp getan hat. Die Schokolade ist ein Coup, den Améris' Co-Autor Philipp Blasband ins Spiel brachte: "Wir haben das Drehbuch in einer Konditorei in Brüssel geschrieben", sagt Améris, "seine Idee, das zu übernehmen, gefiel mir sofort, weil Schokolade etwas so Fassbares ist, mit diesen Wurzeln in der Kindheit . . . Und Schokolade ist auch eine Metapher fürs Kino, für die Leidenschaft, etwas zu schaffen. Das Problem ist nur, dass man diese Kreation irgendwann einem Publikum zeigen muss, und es ist ja der Blick der anderen, der Angst auslöst."

Selbstverständliche Eintracht im strömenden Regen

Die Beschreibungen der Kunstwerke aus Schokolade entwickeln im Film eine durchaus lebensphilosophische Dimension, der zarte Schmelz des Trostes, die leichte Bitterkeit, die ihr die richtige Würze verleiht, und all die unerwarteten Überraschungen, die Zutaten wie rosa Pfeffer, Salzkristalle und Steinpilze mit sich bringen. Und wenn Angélique Jean erklärt, dass die Aromen ihrer Kreationen über Nacht in die Schokolade eindringen, dann ist nicht nur er von der charmanten Anzüglichkeit dieser Aussage überrascht.

Während Angélique Rat in der Selbsthilfegruppe der Anonymen Hochsensiblen sucht, vertraut sich Jean René einem Therapeuten an, der ihm am Ende jeder Sitzung eine Aufgabe stellt, und dadurch zum Cupidus wird: Irgendwann ringt er sich schließlich dazu durch, ihre Hand zu nehmen, und weil er nicht weiß, wie er sie wieder loslassen soll, küsst er sie kurzerhand auf den Mund.

Als Jean René ihr später in einer denkbar kritischen Situation einen Spaziergang im Regen vorschlägt, sagt sie frohgemut, "une bonne idée", und wenn die beiden dann in selbstverständlicher Eintracht durch den strömenden Regen schlendern, erinnern sie an die großen Paare der Kinogeschichte von Minnelli bis Demy.

LES ÉMOTIFS ANONYMES, F 2010 - Regie: Jean-Pierre Améris. Buch: Améris, Philippe Blasband. Kamera: Gérard Simon. Mit Benoît Poelvoorde, Isabelle Carré, Lorella Cravotta. Delphi, 85 Min.

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