Die 65. Filmfestspiele von Cannes:Auf der absteigenden Palme

Wer einmal dabei ist, kann drehen, was er will: Das größte Problem im Wettbewerb der 65. Filmfestspiele von Cannes war, dass sich das Festival in einen eingeschworenen Club verwandelt - mit viel zu wenig Neuzugängen. Herausgekommen ist ein zu absehbarer Wettbewerb mit zu vielen schwachen Stücken.

Susan Vahabzadeh

Was besprochen wird, wenn sich die Jurys treffen bei den großen Festivals, ist leider streng geheim - dabei wäre der Vorgang der Entscheidungsfindung manchmal sicher spannender als die Entscheidungen selbst. Präsident der Jury der 65. Filmfestspiele in Cannes war der meinungsstarke italienische Filmemacher Nanni Moretti, und lässt sich so einer wirklich dreinreden von seinen Co-Juroren, dem Designer Jean-Paul Gaultier beispielsweise oder der Schauspielerin Emmanuelle Devos?

Regisseur Haneke mit der Goldenen Palme

Regisseur Michael Haneke (Mitte) mit den Schauspielern Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant: Hanekes Film "Amour" wurde mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

(Foto: AFP)

Willkürlich erscheint das, was dann am Ende dabei herausgekommen ist, jedenfalls nicht. Gewonnen hat Michael Haneke mit "Amour". Sein Film, der schon am ersten Cannes-Wochenende lief, galt völlig zurecht die ganze Zeit über als Favorit. Und das, obwohl Haneke eigentlich als Filmemacher, könnte man sich vorstellen, nicht so ganz Morettis Fall ist; zu menschlichen Schwächen haben die Filme der beiden ein völlig unterschiedliches Verhältnis: Haneke fordert immer den aufrechten Gang, Stärke ein, Moretti betrachtet seine Figuren eher schmunzelnd, wie sie über ihre eigenen Füße stolpern. Aber "Amour" ist eben kein typischer Haneke-Film.

Man muss es dieser Jury lassen - sie hat sich in einem Wettbewerb, in dem das Durchschnittsalter ziemlich hoch war, just jene älteren Herren herausgepickt, die nicht die Sorte Film abgeliefert haben, die man seit Jahrzehnten von ihnen erwartet hätte. Hanekes "Amour" handelt von einem Paar in Paris, beide über achtzig; sie wird sterben, und die beiden müssen sich darüber klar werden, was es bedeutet, wenn er allein übrigbleibt.

Haneke bleibt sich selbst treu

Einerseits ist sich Haneke in der sehr zurückgenommenen, leisen Inszenierung seiner beiden Hauptdarsteller Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant sehr treu geblieben, andererseits aber erzählt er einmal nicht von menschlichem Fehlverhalten, sondern von einem Mann und einer Frau, denen es nichts nützt, dass sie ihr Leben auf die richtige Art gelebt haben.

Auch Ken Loach erfindet sich mit über siebzig noch einmal neu - und zwar als Komödienregisseur. Schon sein Fußballfilm "Looking for Eric" hat gezeigt, dass er das kann, und nun dreht er weiter auf, denn eigentlich ist "The Angels' Share", für den er nun den Prix du Jury erhalten hat, sogar eine Gangsterkomödie, aber jener Art, bei der man kein schlechtes Gewissen haben muss: Gestohlen wird nur, was keiner je vermissen wird. Wie er jedoch diese vier Kids aus den ganz schlechten Vierteln von Glasgow und ihren ausgeklügelten Whisky-Raubzug in Szene setzt - das zeigt eine unbändige Lust am Filmemachen, und eine Fähigkeit, sich ganz warmherzig in Menschen hineinzuversetzen, die mehr als ein halbes Jahrhundert jünger sind als er selbst.

Matteo Garrone, dessen eher leichtgewichtiger Big-Brother-Comedy "Reality" der Grand Prix du Jury zugesprochen wurde, hat 2008 exakt den gleichen Preis für "Gomorrah" bekommen. Nun handelt "Reality" von einer Besessenheit für Fernseh-Unfug, die in Italien vielleicht mehr bedeutet als anderswo - am Ende kann Moretti vielleicht stichhaltig begründen, warum ein Film den Grand Prix bekommt, der sich in der zweiten Hälfte hoffnungslos verfranst.

Kein überraschender Sieger

Das größte Problem im Wettbewerb der 65. Filmfestspiele von Cannes war es, dass sich das Festival immer mehr in einen eingeschworenen Club verwandelt hat, mit viel zu wenig Neuzugängen. Es ist kein Wunder, dass es dann keinen einzigen Film von einer Frau gab im Wettbewerb. Und es ist auch ganz und gar nicht überraschend, dass es einen Sieger gab, der erst vor kurzem dort oben gestanden hat - Haneke hat erst vor drei Jahren die Goldene Palme bekommen, für "Das weiße Band", vorher schon den Regiepreis für "Caché" (2005) und den Grand Prix du Jury für "Die Klavierspielerin" (2001).

Ken Loach hat den Hauptpreis 2006 mit "The Wind that Shakes the Barley" gewonnen. Zur Auswahl hätten noch Cristian Mungiu (Goldene Palme 2007 für "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage") mit "Beyond the Hills" gestanden - seine beiden Hauptdarstellerinnen wurden statt dessen diesmal ausgezeichnet - oder Thomas Vinterberg (Spezialpreis für "Das Fest", 1998), für dessen Film "Jagten" Mads Mikkelsen den Darstellerpreis erhielt.

Man kann den Entscheidungen insgesamt entnehmen: Auch wenn man um Haneke und Loach nicht herumkam, sollten hier vor allem die Filme der jüngeren Regisseure zum Zug kommen, Garrone, Vinterberg, Mungiu, der auch fürs Drehbuch prämiert wurde, der Mexikaner Carlos Reygadas, der für "Post Tenebras Lux" den Regiepreis bekam. Das ist eine Art, an die Sache heranzugehen, nur ist Mungius Film eine schwächere Variante seines letzten, und "Post Tenebras Lux" ist eher ein Bilderrätsel als Film. Ein großes Publikum wird keiner von beiden finden.

Zu viele schwache Beiträge

Auch bei jüngeren Regisseuren hat es bei den Filmfestspielen in Cannes eben Methode, sie an sich zu binden. Wer einmal aufgenommen wurde in den Club, kann drehen, was er will, er wird hier für die Goldene Palme nominiert. Im vergangenen Jahr ist das rundum gut gegangen - in diesem Jahr aber kam dann ein zu absehbarer Wettbewerb mit zu vielen schwachen Stücken heraus. In Cannes, hat Ken Loach bei der Preisverleihung gesagt, kämen die zusammen, die sich im Widerstand befinden gegen ein Kino, das nur zur Zerstreuung da ist. Das ist ja richtig - aber es sollte zumindest zu irgendwas da sein. Wenn Filme wie "In the Fog" von Sergej Losnitza oder David Cronenbergs "Cosmopolis" oder Abbas Kiarastamis "Like Someone in Love" zu den besten dieses Jahres gehören sollen, dann ist die Nominierung für eine Goldene Palme keine Auszeichnung mehr.

Um aus Regisseuren Stars zu machen, braucht Cannes das Publikum an den Kinokassen, das wird nicht von den Festival-Machern allein entschieden. Auch wenn das dem Selbstbewusstsein von Cannes nicht entspricht. Die Wunschliste fürs nächste Jahr geistert jedenfalls jetzt schon durch die französischen Branchenblätter: Die neuen Filme von Sofia Coppola und Pedro Almodóvar sind dabei, und man will sich angeblich Asghar Farhadi ("Nader und Simin - Eine Trennung") schnappen, der zwar eine Züchtung der Berlinale ist, seinen ersten Film außerhalb Irans aber in Frankreich dreht. Wenn das klappt, stünde zwar wieder ein Clubtreffen bevor - aber ein ganz exquisites.

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