Süddeutsche Zeitung

"Dictator" von Robert Harris:Cicero, der quirligste aller Wanderer

Lesezeit: 5 min

Mit "Dictator" ist seine Politik-Trilogie vollendet: Im letzten Teil erzählt Robert Harris von den letzten Lebensjahren des römischen Staatsmannes Cicero.

Von Bernd Graff

Kann man Menschen, die vor über 2000 Jahren lebten, überhaupt verstehen, auch wenn ausreichend Zeugnisse aus ihrer Welt überliefert sind?

Wenn Menschen nicht nur das Produkt ihrer Gene, sondern auch das ihrer Sozialisation sind, dann wird man nur schwer Empathie und Verständnis für sie aufbringen können, wenn man ihre Gesellschaften und sozialen Netzwerke, ihre Umgangsformen und umgangsförmlichen Verbindlichkeiten, das also, was ihren Alltag regelte und was ihnen selbstverständlich war, nicht kennt. Reagierten sie wie wir auf die Zumutungen, die das Leben für sie bereit hielt? Oder anders: Warum sollte uns die Mentalität von Menschen, die vor 2000 Jahren in Europa lebten, näher sein als die der autochthonen Völker, die heute auf einem fernen Kontinent leben - auch wenn wir ihre Sprache und die Dokumente, die sie uns hinterlassen haben, dem Wortsinn nach verstehen?

Man kann diese Fragen für unbeantwortbar halten. Dann muss man verstummen. Man kann aber, wenn man Menschen prinzipiell für verstehbar hält, auch den Tigersprung wagen und schauen, wie weit man kommt. Im Fall von Robert Harris: sehr, sehr weit!

Der britische Journalist und (inzwischen) Erfolgsschriftsteller hat gerade seine Cicero-Trilogie abgeschlossen, die ihn zwölf Jahre lang beschäftigte. "Wir sind zusammen alt geworden", schreibt Harris. "Dictator" ist dieser letzte Teil - nach "Imperium" und "Titan" - betitelt. Harris leitet ihn beherzt mit einem Zitat von Gustave Flaubert ein, um die mentale Differenz zwischen einst und heute zugleich zu belegen und zu überwinden:

"Gerade, als die Götter schon nicht mehr da waren und Christus noch nicht gekommen, gab es diesen einzigartigen Augenblick in der Geschichte, von Cicero bis Mark Aurel, da stand der Mensch allein. Nirgends sonst finde ich diese besondere Majestät."

Cicero also ist für Harris ein Mann der transzendentalen Obdachlosigkeit, ein Mann der Tat gleichwohl, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Und hier sieht Harris auch den plausiblen Zugang für einen Brückenschlag: Die Zeit, in der Cicero so selbstbewusst (und -verloren) wirkte, ähnelt unserer Zeit.

Denn wir befinden uns in der Zeit einer mit Luxus und Geld überausgestatteten Dekadenz, der Endphase einer Republik im Niedergang, der nur deswegen nicht sofort auffällt, weil sie in dieser Zeit, jedenfalls aus römischer Sicht, so unfassbar erfolgreich ist. Im römischen Imperium geht die Sonne (fast) nicht unter, und reichlich Geld und Gold aus siegreichen Feldzügen strömt in die Kassen. Und doch ist das Imperium nie groß genug. Globalisierung auf römisch heißt um 50 vor Christus , dass nahezu alles römisch dominiert ist. Der rücksichtslose Egomane Caesar hat eigenmächtig fast die gesamte europäische Nordhalbkugel unterworfen. Er hat Gallien besetzt, den Rhein auf einer provisorischen Brücke überschritten, Germanen massakriert, er selber spricht von 430 000 Niedergemetzelten.

Dann ging es zurück, die eigene Brücke wurde wieder eingerissen. Er setzte nach Britannien über, massakrierte auch hier, wieder zurück in Gallien ließ er jedem einzelnen Kämpfer der letzten aufständischen gallischen Garnisonen nach deren Kapitulation die Hände abhacken. Alles dies geschah unabgesprochen und selbstherrlich, der Mann hielt sich schließlich für einen Nachfahren der Göttin Venus. In Rom war man entsetzt: Cato, einer der hartnäckigsten Widersacher Caesars und der Mann, der sich später die eigenen Eingeweide aus dem Leib reißen wird, um nicht von Caesar gefangen genommen zu werden, beantragte im Senat, den zweifellos siegreichen Feldherrn doch an die Germanen auszuliefern.

Er konnte immerhin die Einsetzung einer Untersuchungskommission durchsetzen. Caesars Eigenmächtigkeit ist das prominenteste innenpolitische Thema. Auch Caesar weiß das. Und schert sich nicht drum. Jedenfalls solange seine Widersacher nicht mächtig und einig genug sind, um gegen ihn zu bestehen.

Marcus Tullius Cicero, der klügste Verächter Caesars, agiert bei Robert Harris in den Zwischenräumen dieses gigantischen Räderwerks der römischen Macht. Er ist genauso ehrgeizig und eitel wie Caesar, aber er ist kein Macht-, schon gar kein Kriegs-, sondern ein vor Intelligenz strotzender Tugendmensch. Ein Stoiker, ein Melancholiker auch. Er glaubt an die Republik und ihr Recht, ist selber Anwalt, Schriftsteller und Philosoph.

Vor allem aber ist er ein begnadeter Redner und Feingeist, ein Idealist, dem die Republik als ein vom Senat regierter römischer Idealstaat vorschwebt. Dafür, dass er fast seine gesamte Amtszeit als Konsul im Jahr 63 v. Chr. damit zugebracht hatte, Sergius Catilina, der einen Staatsstreich plante, ins Exil zu befördern, wurde er mit dem Titel pater patriae (Vater des Vaterlandes) ausgezeichnet. Ein Vaterlandsvater also ist er, Übervater der Republik will er sein, der jedoch über Caesar sagen muss: "Er ist die Liebenswürdigkeit in Person. Er hat mir aber keine tieferen Einblicke in seinen monströsen Charakter gewährt. Ich habe nichts als die glatte, glitzernde Oberfläche gesehen."

Mit seiner stets offen artikulierten Verachtung für die Feinde der Republik macht sich Cicero angreifbar - und er wird angegriffen. Wie nahezu alle politischen Akteure seiner Ära geht er Bündnisse auf Zeit ein. Cicero ist dabei der quirligste aller Wanderer zwischen den bis aufs Blut verfeindeten politischen Welten, in denen er abwechselnd sein Lager aufschlägt. Immer, wenn es ihm opportun scheint. Auch Caesar huldigt er irgendwann ausdrücklich. Alles in allem also ist Cicero der Gegenentwurf zum eiskalten Raubein Caesar. Doch wie dieser, wie eigentlich alle, agiert er allein und völlig auf eigene Faust. Denn die Politik der Republik wird von Tag zu Tag auf dem Forum ausgemacht, wobei der polierte politische Diskurs, wie ihn Cicero und Cato pflegen, nur eine Form der Willensbildung ist.

Irrlichternde Reise ins Exil

Einer der schärfsten Widersacher Ciceros, Publius Clodius Pulcher, setzt dagegen ganz auf die Plebs und marodierende Banden, die vor tätlichen Angriffen und Brandanschlägen nicht zurückschrecken. Clodius erreichte etwa mit dem Zorn der aufgestachelten Plebs (und Caesars Hilfe) im Jahr 58 v. Chr. die Verbannung Ciceros, dessen Besitz konfisziert und dessen Haus niedergebrannt wurde.

Mit Ciceros überstürztem nächtlichen Aufbruch und seiner irrlichternden Reise ins Exil, die ihn getrennt von Frau und Familie, aber begleitet von seinem treu ergebenen Sekretär, dem Sklaven Tiro, nach Thessaloniki führen wird, beginnt der letzte Teil in Harris' Trilogie: Cicero wird ab da nur noch 15 Jahre zu leben haben. Er wird, nur 20 Monate nach Caesars Ermordung, inzwischen begnadigt und wieder heimgekehrt, in der Hafenstadt Formia von gedungenen Mördern umgebracht werden. Als Vogelfreier. Denn auch mit den neuen Machthabern hatte er sich in 14 Philippischen Reden angelegt, wollte die Republik auch nach Caesars Ermordung verteidigen und war deswegen auf der Todesliste des Antonius ganz oben gelandet.

Diese 15 Jahre des Niedergangs der Republik und der Skrupellosigkeit im Zentrum der Macht schildert Robert Harris, als ob er den Stoff für eine TV-Staffel des in die Antike versetzten "House of Cards" zusammengetragen hätte: Er tut es weder in einem Sandalen und wippenden Helmbusch tragenden hohen Ton noch in einer sich an unsere Gegenwart anbiedernden falschen Zeitgenossenschaft. Er schreibt modern, ohne die Geschichtlichkeit der Geschichte zu denunzieren.

Das gelingt, weil er die Geschichte Ciceros von seinem Sekretär Tiro erzählen lässt. Das sorgt einerseits dafür, dass Harris auch einen privaten Cicero in seinen Ängsten und Reflexionen schildern kann, ohne ihn subjektivistisch zu personifizieren. Dieser Abschlussband von Harris' Trilogie, den man lesen kann, ohne die beiden ersten Teile zu kennen, ist ein packendes Lese-Spektakel.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2015
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