Süddeutsche Zeitung

Dichterin Ulrike Almut Sandig:"Diese Wehleidigkeit kotzt mich an"

Lyrik ist stinklangweilig, logisch. Und wenn man nackige Gedichtzeilen in Live-Klang-Shows verwandelt? Treffen mit der Dichterin Ulrike Almut Sandig, die das ewige Gejammer ihres Metiers nervt.

Von Hannes Vollmuth

Häufig lässt das Bauchgefühl einen glauben, eine Sache müsste so und so sein, und dann ist es irritierenderweise genau umgekehrt. Von der Lyrik würde man dem Bauchgefühl nach zum Beispiel annehmen, dass sie in Zeiten von Whatsapp, Netflix und Pokémon Go ein jämmerliches Nischendasein in Germanistikoberseminaren fristet. Und es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie unter Denkmalschutz gestellt werden muss. Der amerikanische Schriftsteller Gary Shteyngart sagte mal zur Lage der Lyrik im neuen Jahrtausend: "In Amerika werden Gedichte nur noch von Lyrik-Professoren gelesen, die Studenten unterrichten, welche wieder Lyrik-Professoren werden."

Und dann stößt man auf Ulrike Almut Sandig, Lyrikern, 37 Jahre alt, die regelmäßig mit einem DJ aus der Ukraine auf der Bühne steht. Die aus nackigen Gedichtzeilen fluoreszierende Klang-Überraschungskisten macht. Die einen Channel auf Youtube betreibt und mit ihren Klanggedichten im RBB-Frühstücksradio läuft.

Und auf deren Internetseite unter den anklick- und anhörbaren Gedichten der schöne Satz geschrieben steht: "Diese Dichtung ist auch lesbar." Weshalb man an einem heißen Augusttag nach Berlin fährt, nach Schöneberg, wo die Straßen so leer wirken wie eine Filmkulisse nach Drehschluss. Selbst die Straßenmusikanten langweilen sich mit ihrer müden Leierkastenmusik.

"Wollen wir auf den Friedhof gehen?", fragt sie

Ulrike Almut Sandig kommt herunter auf die Straße. Ist es okay zu sagen, dass sie etwas Apartes, Elfenhaftes an sich hat? Ihr Haar dunkel und jungenhaft kurz, die Adidas-Jacke bunt wie Obstsalat, bedruckt mit Äpfeln, Blumen, Blättern und Blütenkelchen, und wenn sie redet, dann in einem unbeschwerten Plauderton. "Wollen wir auf den Friedhof gehen?", fragt sie.

Der Friedhof ist der St. Matthäus Friedhof, auf dem zur eigenen Überraschung die Brüder Grimm begraben sind, inzwischen auch Rio Reiser, der hierher umgebettet wurde, aber vor Kurzem noch in Nordfriesland lag. Ein Gespräch also über die Möglichkeiten der Lyrik, die angeblich kaum einer liest, auf einem hochspannenden Friedhof, den keiner kennt.

Aufgewachsen in einem ostdeutschen Pfarrhaus in Sachsen, erwachsen geworden im Wende-Leipzig, Studium der Indologie und Religionswissenschaften, Aufnahme am Deutschen Literaturinstitut. Ulrike Almut Sandig hatte schon früh einen Spleen, wie sie sagt, für Song- und Gedichtzeilen, für Sachen, die sich tief ins Gehirn schrauben mit ihrem Klang. Mit 22 klebte sie Gedichte an Leipziger Bauzäune. Augenpost nannte sie das.

Heute wohnt Ulrike Almut Sandig in Berlin, mit Kind und Freund, ausgezeichnet mit vielen Preisen, und inzwischen auch in der Literaturszene bekannt. Ihr zweiter Erzählband "Buch gegen das Verschwinden" war vor zwei Jahren eine literarische Entdeckung. Entrückt schöne Geschichten in einem warmwitzigen Ton, plus Melancholie. Aber noch viel länger schreibt Sandig Gedichte, eigentlich schon immer, der neueste Band trägt den unwahrscheinlich langen Titel: "ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt".

Ihre Schritte knirschen über den Friedhofsweg, hier Familie Otto, Sandigs Lieblingsgrab, dort Jacob und Wilhelm Grimm, zwei Granitgrabsteine in Anthrazit. Dann setzt sich Ulrike Almut Sandig auf eine Bank und redet sich sehr schön in Rage. Eine Friedhofsbank weiter zieht ein Mann eine Bierflasche aus dem Rucksack. Plopp.

Ulrike Almut Sandig: ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 96 Seiten, 22,00 Euro.

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