Dichter über Dichter:Jedes Leben ist irgendwo auch ein Gleichnis

Silke Scheuermann schreibt über Gedichte, Dichterinnen und sich selbst.

Von Burkhard Müller

Was versteht ein Vogel schon von Ornithologie? Wer so fragt, meint damit, dass Dichter am allerwenigsten über Dichtung reden können (oder sollten). Diese Behauptung will Silke Scheuermann nicht auf sich beruhen lassen; sie tritt an, um zu beweisen, dass speziell Lyriker (sie hat mehrere Gedichtbände vorgelegt) durchaus nicht nur singen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sondern solchen Gesang auch zu reflektieren vermögen. Sie spricht von ihrer eigenen Poesie und Poetik, von den Einflüssen, die sie geprägt haben, und von anderen Dichtern (besonders Dichterinnen), die sie schätzt.

34 Einzelstücke, davon etwa die Hälfte aus der "Frankfurter Anthologie" in der FAZ, hat sie versammelt. Die verdienstvolle Frankfurter Anthologie hat ihren Reiz darin, Gedichte und Dichter, die nur wenige Leute kennen, vorzustellen und in einen Kontext zu bringen; mehr kann und soll sie nicht leisten. In einem ganzen Buch über Lyrik aber hat das den Nachteil, dass die Autorin, kaum ist sie gestartet, auch schon wieder landen muss; manchmal reicht es da gerade noch für die Anekdote. Über den Schriftsteller Ernst Jünger ist relativ wenig gesagt, wenn man schildert, wie sich das Partygeplauder bei einem Marbacher Empfang fasziniert um den "Afterhaarpinsel" dreht, den Jünger brauchte, um bei Käfern das Geschlecht festzustellen.

Bei Dichterinnen tendiert Scheuermann sehr dazu, sie als Opfer darzustellen. "Die junge Frau zerbrach an ihren zu hoch gesteckten Idealen" (gemeint ist Scheuermanns großes Vorbild Sylvia Plath) - das ist dann doch ziemlicher Geniekitsch. Und wenn sie schreibt: "Ja, es war nötig, dass Sylvia Plath sich umbrachte, um ihre letzten Gedichte zu schreiben", so hat der Leser das dunkle Gefühl, dass hier etwas an der Reihenfolge nicht stimmt.

Es fällt nicht leicht, ein Gedicht so zu loben, dass man es mit keinem anderen verwechselt; auch Scheuermann macht das Probleme. Über Virginia Woolf und Emily Dickinson weiß sie zu melden: "Viele ihrer Bücher müssen magisch sein, da so viele Leser etwas in ihnen finden können". Nach diesem Maßstab wären Susanna Tamaro und Paulo Coelho die größten aller Dichter. "Doris Runge hat einmal gesagt: 'Jedes Leben ist irgendwo auch ein Gleichnis.'" Braucht man Doris Runge, um einen Satz wie diesen zu beglaubigen? Und stimmt es denn, dass Gedichte "betretbare Bilder" wären? Etliches von dem, was Scheuermann mitteilt, ist nicht verkehrt, hilft aber im konkreten Fall nicht viel weiter. "Es ist schwer, herausragende Gedichte zu schreiben - man kann sich unmöglich immer in Grenzsituationen aufhalten, man würde ja wahnsinnig." Wem sagt sie das.

Der Band hätte Scheuermann die Gelegenheit geboten, so etwas wie einen privaten Lyrik-Kanon zu begründen, ein Urteil durch Auswahl zu fällen. Stattdessen erlebt man einigermaßen verwundert, dass die guten und die schlechten Dichter hier ziemlich ungeordnet durcheinanderlaufen und dass neben Gertrud Kolmar und Anne Sexton Namen wie Karin Kiwus oder Volker Sielaff stehen, als wäre das so ungefähr dasselbe. Herauszuheben ist freilich das lange Stück über Helga M. Novak: Die liebt sie wirklich.

Scheuermann spricht gern und oft von Grenzsituationen, Obsession und Opfer. Wie sie sich selbst im lyrischen Kosmos verortet, dürfte allerdings eher das krachbunte Porträtfoto verraten, mit dem sie sich über dem Klappentext verewigt hat: Ungefähr elf ist sie darauf und lächelt einen von Kopf bis Fuß tätowierten Mann mit Gitarre an, der neben ihr auf einem Omasofa sitzt, vor dem Hintergrund einer grauenvollen Blümchentapete. Recht neckisch das Ganze.

Silke Scheuermann: Und ich fragte den Vogel. Lyrische Momente. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 247 Seiten, 19,95 Euro

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