In der Nacht auf den 22. Juli 2001 stürmten am letzten Tag des G-8-Gipfeltreffens im italienischen Genua circa 300 schwerbewaffnete Polizisten die Diaz-Pascoli-Schule. Dort waren Globalisierungsgegner und Journalisten untergebracht, aber auch zufällige Besucher der Hafenstadt, die wegen des Gipfels keine Unterkunft in den ausgebuchten Hotels gefunden hatten. Ohne Vorwarnung und völlig wahllos schlugen die Beamten jeden zusammen, den sie in der Schule antrafen. Das Ergebnis: 93 Schwerverletzte, davon drei im Koma. Nach einer Zwischenstation im Krankenhaus wurden die Verletzten in einer Kaserne festgehalten, wo sie weiter misshandelt, verhört und beschimpft wurden.
Ein nachvollziehbares Motiv für die Polizeiaktion konnte nie ermittelt werden. Die zwei Molotowcocktails, mit denen die Beamten später eine Provokation durch die Globalisierungskritiker zu belegen versuchten, erwiesen sich als von der Polizei eingeschleust. Die gerichtliche Aufarbeitung der Razzia führte zur Verurteilung dutzender Polizisten und Strafvollzugsbeamten wegen Körperverletzung, Urkundenfälschung und Amtsmissbrauch. Die Drahtzieher der Aktion wurden trotz einer Verfahrensdauer von elf Jahren nie ermittelt. Die Vorgänge um den Überfall auf die Schule dienten dem italienschen Regisseur Daniele Vicari als Vorlage für seinen Spielfilm "Diaz - Don't clean up this blood", der bei der Berlinale 2012 den zweiten Publikumspreis gewann und nun auf DVD erscheint.
SZ.de: Die Ereignisse, die Sie in Ihrem Film "Diaz - Don't clean up this blood" erzählen, trugen sich im Juli 2001 zu. Warum haben Sie so lange gebraucht, um diesen Film zu machen?
Daniele Vicari: Dass es so lange gedauert hat, liegt an dem Gerichtsverfahren, das sich über elf Jahre hingezogen hat. Als wir mit den Arbeiten für den Film begannen, war das Urteil der ersten Instanz gerade ergangen, und die offiziellen Dokumente aus dem Verfahren waren für uns und jeden anderen einsehbar. Erst durch diese sehr umfassenden Unterlagen konnten wir uns ein Bild von den Vorgängen machen, die zur Erstürmung der Diaz-Pascoli-Schule führten.
Umso verwunderlicher ist es, dass Ihr Film keine Schuldigen benennt.
Das stimmt. Dass wir im Film keine bestimmten Leute zeigen können, die die Erstürmung der Schule befohlen haben, liegt daran, dass es trotz des jahrelangen Verfahrens nicht gelungen ist, die Leute zu identifizieren, die den Befehl zur Erstürmung gegeben haben.
Aber Polizisten sind doch wegen Straftaten verurteilt worden.
Einzelne Polizisten sind wegen unangemessener Gewaltanwendung verurteilt worden, oder weil sie Leute zwangen, unzutreffende Erklärungen zu unterschreiben. Das waren Urteile wegen individuellen Fehlverhaltens. Aber eine Befehlskette konnte nicht nachgewiesen werden.
Aber Sie zeigen im Film doch diese Situation, in der diese Entscheidung von hohen Funktionsträgern gefällt wird.
Sicher. Wir haben uns erlaubt, diese Szene darzustellen, weil es sehr wahrscheinlich ist, dass sie sich so abgespielt hat. Aber ich konnte keine spezifische Person als Schuldigen benennen, weil diese im gerichtlichen Verfahren nicht identifiziert wurde. Das Anliegen meines Filmes war aber auch nicht, einzelnen Menschen die Schuld zuzuweisen. Mein Film ist nicht gegen einzelne Polizisten oder gegen einzelne politische Entscheidungsträger gerichtet, sondern ich wollte zeigen, dass die Repression vom Mechanismus der Staatsgewalt ausging.
Wie erklären Sie sich, dass sich so viele Polizisten und Wärter in der Bolzanetto-Kaserne dazu hinreißen ließen, unschuldige und wehrlose Menschen schwer zu verletzen? Wie kommt es, dass Menschen, die rechtschaffene Bürger sind, schwere Straftaten begehen , sobald sie Uniformen tragen?
Die Analyse der Auslöser für diesen Mechanismus und der Motive, die dabei im Spiel sind, ist extrem kompliziert. Dennoch lassen sich einige Auslöser klar benennen. Da wäre zunächst der Umstand, dass das italienische Strafgesetzbuch keine Klausel enthält, die Folter verbietet. Das liegt daran, dass Italien die entsprechende Konvention der Vereinten Nationen von 1984/1985 nach wie vor nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Daraus folgt wiederum, dass bei uns bislang niemand wegen Folter verurteilt wurde.
Aber ist es nicht ein Kennzeichen moderner Zivilgesellschaften, dass normal sozialisierte Bürger eine natürliche Hemmung haben, brutal um sich zu schlagen? Kommt diese Hemmung erst mit dem Strafgesetzbuch?
Die Motive, die einem derart gewaltvollen Auftreten zu Grunde liegen, sind sowohl politischer als auch anthropologischer Natur. Die politischen Motive ergeben sich, weil die Politik in Italien kein gesundes Verhältnis zur Gesellschaft hat und als schwach wahrgenommen wird. In der Justiz und den Strafverfolgungsbehörden hat sich daher nicht das Selbstverständnis entwickelt, öffentlicher Kontrolle zu unterliegen. Seit jeher besteht im Sicherheitsapparat eine Tendenz, das politische Machtvakuum auszufüllen.
Was verstehen Sie unter anthropologischen Motiven?
Warum richtete sich die Polizeigewalt in der Diaz-Pascoli-Schule in erster Linie gegen Frauen? Ich denke, dass liegt in erster Linie an der Macho-Mentalität, der ein solches Verhalten zu Grunde liegt.
Nahezu alle Polizisten in Ihrem Film mit der Ausnahme des "guten" Max scheinen pathologische Schläger zu sein, während sie die Globalisierungsgegner im Wesentlichen als nette junge Leute darstellen, die nicht gewaltbereit sind. Sie zeigen zu Beginn des Filmes zwar Aktionen des Schwarzen Blocks, aber ist das nicht dennoch eine zu einseitige Verallgemeinerung?
Zunächst einmal: Es gibt nicht nur Gut und Böse. Wenn wir diese einfache Unterteilung machen könnten, würden wir in einer viel besseren Welt leben. Bemerkenswert ist aber doch, dass alle Polizisten, die in der Diaz-Schule und in der Bolzanetto-Kaserne als Vertreter des Staates zuschlugen, durch ihre Schutzkleidung und Helme vollständig maskiert waren. Es war unmöglich, sie zu identifizieren. Warum wirkt Max denn wie ein Guter? Weil er seinen Helm abnimmt, dadurch verwundbar ist und seine Menschlichkeit zurückgewinnt. Die zusammengeprügelten Opfer hingegen waren einer gigantischen Maschinerie unterworfen - es gab keinen einzigen Fall des Widerstands. Sie hatten keine Chance, zu reagieren. Hätten sie Waffen gehabt, hätten sie sich vermutlich gewehrt.
"Diaz - Don't clean up this blood", Italien/Rumänien/Frankreich 2012 - Regie: Daniele Vicari. Buch: Daniele Vicari, Laura Palolucci. Kamera: Gherardo Gossi. Musik: Teho Teardo. Mit: Claudio Santamaria, Jennifer Ulrich, Elio Germano. Universal Pictures International, 127 Minuten.