Süddeutsche Zeitung

Dialekt in der Literatur:Mer lischt!

In der deutschen Literatur kommt der Dialekt nur selten vor - nicht einmal im Heimatroman ist er richtig zu Hause. Dabei kann er etwas ausdrücken, was die Hochsprache nicht vermag.

Lothar Müller

Ein etwas alberner Goethe-Witz behauptet, die letzten Worte des Dichters seien nicht "Mehr Licht!" gewesen. Vielmehr habe auch auf dem Totenbett in Weimar der Frankfurter seine Herkunft nicht verleugnet. Doch habe ihm die hessische Zunge mitten im Satz den Dienst versagt, als er sagen wollte: "Mer lischt die Deck so schwer uf de Brust". Ein schönes Wort: Mundart. Aber die Literatur, nach den Buchstaben benannt, ist mit der Schrift im Bunde, und mit der Hochsprache, und je moderner die Zeiten wurden, desto mächtiger wurde das Gleichheitszeichen zwischen Hochsprache und Schriftsprache.

Natürlich, es gab im Gegenzug die Mimikry mit dem Mündlichen in der Literatur, die Sprache des Volkes zu bewahren gehörte zum großen romantischen Projekt, in Georg Büchners Woyzeck floss das Hessische in die Sprache des Helden und in das trostlose Märchen der Großmutter, später das Schlesische in Hauptmanns Weber, und das Volkstheater wurde zur Hochburg des Dialekts, gerade weil er dort dem Siegeszug von Hochsprache und Schriftsprache eine lange Nase drehen konnte.

Aber es hilft nichts. Mag der Dialekt auch nach wie vor im Karneval seinen Heimvorteil ausspielen und im Kabarett zwischen Schwaben und Ostwestfalen Triumphe feiern, in der Literatur führt er meist Auswärtsspiele, und wenn auch zum Beispiel das Plattdeutsche eine reiche schriftsprachliche Tradition hat und gern darauf verweist, es sei eine eigene Sprache und nicht lediglich ein Dialekt, so wirkt doch auch hier der noch so virtuos in die Schrift übertragene Zungenschlag wie hineinzitiert.

Moderne Romane, auch wenn sie sich der Provinz zuwenden, legen kaum einmal ihren Erzählern den Dialekt in den Mund, mögen sie auch noch so munter reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Meist eröffnet der Dialog einen mehr oder weniger breiten Spalt, durch den die Mundart in den Text hineinschlüpfen kann: "ausgerechnet für unsre letzte Sau ließ sich partout keen Schlachter offtreiben. Die ganzen Dörfer von hier bis Leipzsch sin weg", sächselt die Mutter in Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau (2010), der in einem Dorf südlich von Leipzig spielt.

Aber zur Heimat der Dialekte kann die Literatur auch im Heimatroman nicht werden. Und da sie nun einmal nicht in Lautschrift verfasst wird, klingen die dialektalen Einsprengsel in Prosatexten immer ein wenig nach "als ob". Ihre Wirkung entfalten sie nicht zuletzt durch den Kontrast zur hochdeutschen Schriftsprache, in der sie auftauchen wie durchreisende Fremde.

Wieder in den Dialekt hineinwachsen

Das mag auch heutzutage noch so aussehen, als bewahrte die moderne Literatur dem Dialekt immer noch aus romantischen Motiven die Treue oder als wüchse der Dialekt, wie geschwächt auch immer durch das Hochdeutsche, stets "von unten" in die Literatur hinein, von der gesprochenen Sprache des Volkes her. Es ist aber eher umgekehrt: der modernen, fest in der Schriftsprache verwurzelten Literatur macht es gelegentlich Spaß, vom Plateau der Hochsprache wieder in die Dialekte hineinzuwachsen.

Sie greift dann zum Sprachmaterial der Dialekte, wie die bildende Kunst zu den Ready-mades, die sie ihren Installationen einverleibt. Der Hauptschauplatz dieses vorsätzlichen Hineinwachsens ist in der neueren Literatur nicht die erzählende Prosa, sondern die Lyrik. Nirgends lässt sich das besser studieren als in Wien. Wenn H.C. Artmann in seinem Gedichtband med ana schwoazzn dintn (1958) mit dem Dialekt seiner Heimatstadt spielte, dann gerade nicht so, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Sondern so, wie er das Papier mit stummen Lauten beschriften wollte.

Das hat der größte österreichische Erzähler Heimito von Doderer sehr genau erfasst, als er 1959 im Vorwort zu dem Gedichtband "hosn rosn baa" von Friedrich Achleitner, H.C. Artmann und Gerhard Rühm schrieb, was diese jungen Leute machten, habe mit der älteren Dialektdichtung "bis hinauf zu Johann Peter Hebel und wieder herab zu Ludwig Thoma" wenig zu tun: "sie kommen nicht von der Mundart und ihrer Gesinnung her, sie entdeckten jene auf ihrem Wege." Das Überschreiten der "Wasserscheide des Geistes", als die er die "Dialektgrenze" begriff, hat Doderer in seinem Roman Dämonen beschrieben.

Man muss erst umblättern

Alle Vitalität des Dialektes in der Lautpoesie seit Kurt Schwitters und Hans Arp im frühen 20. Jahrhundert lebt diesseits der Wasserscheide, ist Hineinwachsen der Literatur in den Dialekt, nicht umgekehrt. Das ist im Wien der Nachkriegszeit gelungen, es kann aber auch in Franken im Jahre 2010 gelingen, wo der Autor Gerhard Falkner kürzlich den Band Kanne Blumma: Fränkische Lyrik (2010) veröffentlicht hat. Darin stehen die fränkischen Gedichte für sich. Erst wenn man umblättert, hat man die hochdeutsche Übersetzung vor Augen.

In der Zeitschrift poetenladen.de hat Falkner sich selbst kommentiert: "Ich bin kein Mundartdichter." Und: "Der Dialekt rückt mit seiner geballten phonetischen Raffung den Text manchmal in den Bereich des hermetischen Gedichts." Dass der Dialekt etwas kann, was die Hochsprache nicht kann, hat die moderne Literatur aus der Sicht der Hochsprache entdeckt.

Weitere Texte zur Bedeutung des Dialekts lesen Sie in der SZ vom 13.11.2010.

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SZ vom 13.11.2010/lena
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