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Favoriten der Woche:Als lägen unterm Ruhrgebiet queere Fetisch-Keller

Eine Ausstellung in Berlin erkundet den Sex-Appeal der Industriefotografie im geteilten Deutschland. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Ausstellung: "Fortschritt als Versprechen" in Berlin

Wer eine Ausstellung über Industriefotografie vor sich hat, dann auch noch eine über Industriefotografie im Systemvergleich von DDR und BRD, ist innerlich vielleicht auf den Sex-Appeal von Werkszeitungen und Firmenprospekten gefasst. Nicht aber unbedingt auf nackte Muskelmänner und posierende Mannequins. Exakt damit überraschen sie einen aber jetzt im Deutschen Historischen Museum Berlin eher beiläufig.

Dabei ist es wirklich spektakulär: Nicht nur im Foto, sogar im Film sieht man da bis auf die Arbeitsstiefel entblößte Kohlekumpel, die sich im Schacht mit ihrem Werkzeug in Szene setzen, als lägen da unterm Ruhrgebiet praktisch queere Fetisch-Keller. Die Hitze unter Tage erklärt manches, aber nicht alles. Der DDR-Bergmann Adolf Hennecke trägt immerhin noch Hosen auf dem berühmt gewordenen Bild, das ihn mit freiem Oberkörper beim "Hennecken" zeigt, also bei seiner propagandistischen Sonderschicht zur Planübererfüllung, was bei vielen im Land ausdrücklich als wenig attraktiv empfunden wurde, weil es auf Steigerung der Normzahlen hinauslief.

Eher bizarr als werbewirksam wirkt "Fotomodell im Produktionsbereich Dederon", ein Bild von Hellmut Opitz aus der DDR - ebenso wie "Fotomodell im Dralon-Werk" der Bayer AG, BRD, von Max Jacoby. Die Idee, Mode dort zu präsentieren, wo sie hergestellt wird, ist einerseits naheliegend. Andererseits wird Essen selten im Schlachthof fotografiert. Und auch in der Ästhetisierung von Technik, Sauberkeit und sonnenuntergangsrot glühendem Stahl schlägt ein werblicher Impetus durch. Mal werden da Kundschaft und Öffentlichkeit umworben, mal potentielles Personal: "Stahl ist Männersache" versprach ein Plakat künftigen Lehrlingen im VEB Rohrkombinat Freital.

Nicht nur mit solchen Details hat eine Ausstellung zur Industriefotografie in beiden Deutschlands heute wirklich etwas eminent Historisches. Viele der Industriestandorte, die hier gezeigt werden, gibt es nicht mehr, vor allem die im Osten. Da Deindustrialisierung aber inzwischen auch im Westen ein Thema ist, bekommt - zweite Überraschung - ausgerechnet diese euphorisch sachliche Fortschrittsfotografie heute Züge romantischer Melancholie (bis 29.5.). Peter Richter

Pop: Die Künstlerin Dilla

Der aberwitzig geringe Frauenanteil im notenverarbeitenden Gewerbe ist vielfach und völlig zu Recht beklagt worden - dass es am Nachwuchs nun wirklich nicht liegt, lässt sich bei der derzeitigen Tour der Künstlerin Dilla überprüfen. Dilla schreibt und singt und produziert ihre Lieder komplett selbst, außerdem spielt sie etliche Instrumente. Im Ergebnis steht Pop, der sich nicht so sehr für Genre-Grenzen interessiert und bei dem es auch textlich eine sattgrüne Grenze gibt, zwischen Deutsch und Englisch geht es häufig hin und her. So reimt Dilla in "Girls", dem gerade veröffentlichten Skate-Punk- und Liebeslied-Kracher: "Ich war lost, aber mit dir bin ich irgendwie found / Trust-Issues, aber dir kann ich irgendwie vertrau'n." Und im Refrain: "Du bist für mich nicht nur ein Toy-Boy / Du bist der Grund, weshalb ich irgendwann mal treu bleib." Echt awesome! Cornelius Pollmer

Literatur: Memoiren von Andreas Dorau

Unter den deutschen Pophelden ist Andreas "Fred vom Jupiter" Dorau der unermüdlich arglose Exzentriker mit Krawatte unterm Pullunder und Bühnenangst. Die Kunst, noch jedem Scheitern freundlich Einlass zu gewähren, die versehentliche Erhabenheit der Vergeblichkeit beherrscht er wie niemand sonst. Mit dem Bestseller-Autor und Element of Crime-Sänger Sven Regener hat der Veteran des Gaga-Elektropop jetzt den zweiten Teil seiner Memoiren geschrieben: "Die Frau mit dem Arm" (Galiani Berlin). In der vergangenen Woche waren sie auf Lesetour in Hamburg, Frankfurt und München. Wie der Vorgänger "Ärger mit der Unsterblichkeit" ist das Buch voller seltsamer Ideen, absurder Erlebnisse und skurriler Geschichten wie der vom Musikvideo "Flaschenpfand". Es handelt von einer Pfandflasche, "die aus ihrem engen bürgerlichen Alltag flieht, dabei auf die schiefe Bahn gerät und beinahe daran zerbricht". Jens-Christian Rabe

Klassik: Mozart und Paisiello

Die erste Überraschung ist ein Introitus von Niccolò Jommelli, den der Originalklangexperte Julien Chauvin Mozarts Requiem voranstellt. Wenn die altbackenen Solisten den herausragenden Gesamteindruck von Orchester und Chor nicht etwas trübten, fände man in dieser Aufnahme - wie in jener von Teodor Currentzis von 2010 - eine echte Neuentdeckung des viel gespielten Werkes. Die zweite Überraschung offenbart sich in der prächtigen Krönungsmesse für Napoleon des Neapolitaners Giovanni Paisiello. Er war 16 Jahre älter als Mozart und diesem nicht nur im Orchesterklang, sondern auch in der Stimmführung der Solisten und der Gestaltung der Choreinwürfe oft sehr nahe. Auch seine Biografie zeigt Parallelen in der Abhängigkeit vom Spiel der wechselnden Mächte. Am Ende war der einstige Großverdiener wirtschaftlich ruiniert. Helmut Mauró

Podcast: Next Year in Moscow

Von kommendem Jahr an wird Marina Davydova als Schauspielchefin bei den Salzburger Festspielen wirken - sicherlich eine reizvolle Aufgabe, die Theatermacherin, Dramatikerin und Journalistin hätte so ein Engagement in Österreich sicher auch in normalen Zeiten in Erwägung gezogen. Dass aber derzeit keine normalen Zeiten sind, zumal nicht für Künstler, die in den vergangenen Jahren Kulturaustausch zwischen Russland und dem Westen betrieben haben, muss nicht extra erwähnt werden. Die genauen Umstände ihrer überstürzten Flucht aus Russland im Februar 2022 aber schildert Davydova sehr hörenswert in dem englischsprachigen Podcast "Next Year in Moscow" des Nachrichtenmagazins Economist.

Am 24. Februar veröffentlichte sie eine Petition, die Wladimir Putin nicht gefallen konnte. In dem bald von vielen Künstlerinnen, Theaterleuten und Intellektuellen unterstützten Schreiben hieß es, dass der Präsident diesen fürchterlichen Krieg sofort stoppen solle. Sie habe die Petition im Trubel der darauffolgenden Tage schon fast wieder vergessen gehabt, erzählt Davydova, als sie kurz darauf zu Hause auf ein österreichisches Filmteam für ein Interview wartete. "Was heißt das, was bedeutet das an Ihrer Tür?", hätten die Journalisten gefragt, als sie öffnete - und da erst sah Davydova ein damals neues, heute berüchtigtes Zeichen: Man hatte ein "Z" auf die Tür gemalt, und der Theatermacherin war klar: "Ich muss mein Land verlassen. Für eine lange Zeit. Vielleicht für immer."

Für seinen Podcast ist der aus Russland stammende, in Großbritannien aufgewachsene, langjährige Moskau-Korrespondent des Economist, Arkady Ostrovsky, durch Europa und Asien gereist. Er hat der neuen Generation russischer Exilanten nachgespürt, die gerade damit beschäftigt ist, sich im Ausland neue Existenzen für die Zukunft aufzubauen: Als Gründerin einer russisch-ukrainischen Buchhandlung in Istanbul etwa, als Betreiber unabhängiger Medienplattformen im Baltikum, als Schauspiel-Chefin in Salzburg wie Marina Davydova. Zugleich versuchen Ostrovskys Gesprächspartner, sich rückwirkend ihrer Position im Putin'schen System zu versichern: Haben wir genug getan? Haben wir uns zu früh ins Private zurückgezogen? Die Selbstzweifel sind groß, die Eigenanalysen hart. Moritz Baumstieger

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