Bosnische Literatur:Die Fee und die Soldaten

"Ein Haus für die Müden" - in seinen neuen Erzählungen zeigt der große bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan seine ganze Kunst der Widersprüche und Paradoxien.

Von Nico Bleutge

Wer in Dževad Karahasans Geschichten zu wandern beginnt, mag sich bisweilen erinnert fühlen an die "Carceri d'Invenzione" des Barockarchitekten Giambattista Piranesi. Ein Labyrinth dunkler Wege voller Leitern und Treppen, mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass Karahasans erfundene Kerker nichts Monumentales haben, sondern sich der Kraft der Einzelheiten verdanken. Es ist ein Schreiben der Erinnerung, im doppelten Sinne, in dem sich die Suchbewegungen der Philosophie mit einer mehrfach gebrochenen Wahrnehmung verbinden, immer im Bewusstsein der gesellschaftlichen Strukturen und der jeweiligen historischen Situation.

Die Geschichten, die Karahasan erzählt, sind voll von Widersprüchen und Paradoxien, verwahren "Familienschmuck und Erbkrankheiten" zugleich, wie es einmal heißt. In ihrem Innersten suchen sie nach jener "fluiden Substanz des Lebens", die Karahasan vor allem im Alltag der Straße findet, in den Gassen der kleinen bosnischen Städte und Dörfer wie in den Kneipen von Sarajevo. Hier sind die vermeintlich anständigen Menschen genauso unterwegs wie der Dieb mit seiner eigenen Vorstellung von Ehre - und wenn Karahasan sie der Welt der Gesetze, Gerichte und Polizeigewalt aussetzt, schlägt er sich weder auf die eine noch auf die andere Seite, sondern hinterfragt alle willkürlichen Einteilungen und beschreibt die grundsätzlichen Ambivalenzen des Lebens.

Die Figuren grübeln gern, sind stolz auf ihre "Narreteien" und Verdrehungen

Dass der einzelne Mensch mit seinen Nöten und Emotionen in den erzählerischen Bögen der sogenannten großen Geschichte zu verschwinden droht, zeigt Dževad Karahasan auch in seinem neuen Band mit Erzählungen, die im Original bereits 2014 erschienen sind. Gleich die erste Erzählung beginnt mit einer Reflexion über die Anordnung von Zeitungsartikeln im Ersten Weltkrieg, die Karahasan in eine gebrochene philosophische Spekulation überführt. In einem Nebensatz, genauer: in einer beiläufig erwähnten Gefallenenliste, findet sich auch der Name Bego Lisić. Dieser Bego, stellt sich nach und nach heraus, spielt in den Verwicklungen der Erzählung eine entscheidende Rolle.

Aus dem Kuriosum, dass mehrere Briefe erst mit großer Verspätung bei ihren Empfängern eintreffen (in einem Fall dauert es fast zwei Jahre), entwickelt Karahasan eine weitläufig mäandernde, bei alldem sehr genau gebaute Erzählung, die Elemente der Kriminalgeschichte kennt, mit ironisch gesetzten Thesen arbeitet und sogar in die Welt der Gefängnisse führt. Am Ende ist wie immer die Liebe schuld, wobei Herzensgüte und tatsächliche kriminelle Energie untrennbar ineinander fließen. Es ist faszinierend zu sehen, wie Karahasan seinen Bego aus der Anonymität der Gefallenenliste ebenso löst wie aus den Theorien der Philosophen, um das einzelne Leben, Begos ganz eigene Geschichte zu erzählen. Dabei gelingt es ihm gleichwohl, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das eine mit dem anderen immer zusammenhängt, das Konkrete ohne das Abstrakte nicht zu haben ist und umgekehrt.

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Eine feste Erzählperspektive gibt es bei diesem Autor nicht: Dževad Karahasan 2016 in Salzburg.

(Foto: imago/Manfred Siebinger)

Viele Geschichten beginnen mit einer allgemeinen, philosophischen oder theologischen, Reflexion, oft gefiltert durch das Denken und Fühlen einer Figur. Das erzeugt ironische Reibung und ist zugleich ein Hinweis darauf, dass es keine übergeordnete Warte gibt, kein Erzählen außerhalb von Perspektiven. Und bald schon reichert Karahasan seine Sätze mit Details an, mit Bierkrügen und Witzen, mit Staub und Schmutz von menschlichen Händen, mit Feuchte, Ruß und Gerüchen, mit all dem "unsichtbaren Dreck, der uns umgibt und nur zusieht, woran er sich kleben und wie er Sichtbarkeit erlangen kann".

Durch diesen Staub laufen die Figuren, Menschen, die gern grübeln und stolz auf ihre kleinen "Narreteien" und Verdrehungen sind. Juso Čoban zum Beispiel, der in der bosnischen Stadt Livno wohnt. Sein Haus und seine Bäckerei hat er im Zuge der großen Umwandlung verloren, die er wahlweise die "neue Maskerade" und die "verkehrte Welt" nennt, "als wären sie in einen Spiegel gezogen und gingen links, wenn ihnen rechts angezeigt wird". Was er meint, ist nichts anderes als der anbrechende Kommunismus. Er erinnert ihn an seine Urangst, alles könne gleich sein und sich auflösen. In seiner Suche nach Ordnung und Überschaubarkeit sehnt sich Juso insgeheim nach dem exakten Gegenteil, einer Unordnung, in der Feen und diabolische Wesen die Zeit dehnen. Doch als er sie einmal tatsächlich zu sehen glaubt, muss er feststellen, die vermeintlichen Feen sind - Soldaten, die mit ihren nackten Hinterteilen über einer Grube hocken.

Wie schon in seinem Roman "Der nächtliche Rat", der bei uns 2006 erschienen ist, verwischt Dževad Karahasan immer wieder die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Imagination, verwebt die Realien mit Versatzstücken fantastischer Welten. Eine der Figuren, die an einer Eisenbahnstrecke wohnt, träumt davon, die Wirklichkeit könne aus der Welt verschwinden. Als hätten die Gleise, Inbegriff der neuen Welt, "einen Ausgang geöffnet, durch den die Wirklichkeit abfloss". Was daran Illusion ist und was nicht, lässt sich nicht genau sagen.

So ist es kein Wunder (oder vielleicht doch?), dass in der Erzählung "Aufzählung von Wundern" die Wunder eher Alltagsgeschichten ähneln. Karlo Brzohod hat keine Lust mehr, Montag für Montag in die Stadt hinunterzugehen. Seit dem Tod seiner Frau hat sich ihm die Welt in unbewegliche, gleichsam eingefrorene Bilder verwandelt. Auch wenn diese Geschichte zuweilen ein wenig durchhängt ("die gleichen Geschichten mit den gleichen Worten auf die gleiche Weise erzählt", heißt es einmal), zeigt sie doch die grundlegende Zersplitterung der Welt, die allen Figuren zu schaffen macht, einerlei, ob sie unter den Brüchen des Ersten Weltkriegs leiden oder unter dem Kommunismus.

So, wie er im "Nächtlichen Rat" Jugoslawien kurz vor dem Bürgerkrieg seziert und in seinem großen Roman "Der Trost des Nachthimmels" (2016) das Seldschuken-Reich im 11. Jahrhundert, denkt Dževad Karahasan in diesen fünf Geschichten erzählerisch über das ganze 20. Jahrhundert nach, bis hinein in unsere Gegenwart. Ohne dass es je ausgestellt wirken würde, untersucht er den Begriff "Grenze" oder gesellschaftliche Machtansprüche. Dabei sieht er sich immer genau an, was die Menschen, die sich erinnern, antreibt: Wissensdurst, Sehnsucht, Liebe, manchmal nur Ressentiments oder gar blanker Neid.

Seine Sätze folgen oft dem Prinzip der Steigerung oder, umgekehrt, der kunstvollen Einschränkung. Sie sind beweglich, ziehen manchmal weite Bögen. Katharina Wolf-Grießhaber hat diesen Rhythmus in den Übersetzungen ebenso schön eingefangen wie die Einsprengsel aus Umgangs- und Fachsprache. "Eine dicke Schicht schweres moderndes Laub, Gras und Reste einer Pflanze, von deren Natur und Herkunft er keine Ahnung hatte, bedeckten den Garten bis in den letzten Winkel", lesen wir in einer Geschichte, die in Duvno spielt, jenem Städtchen, in dem Karahasan geboren wurde. Ein wenig ähneln seine Erzählungen dieser Pflanze. Reste sind sie keineswegs, aber ausgreifend, schwer zu vergleichen - und mit der Historie verwachsen wie die Pflanze mit dem Garten.

Dževad Karahasan: Ein Haus für die Müden. Fünf Geschichten. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 239 Seiten, 24 Euro.

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