Deutschland um 1750:Der Glocken bebendes Getön

Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs.

Von Kristina Maidt-Zinke

Epochenpanoramen stehen hoch im Kurs. Ein Grund dafür mag die extreme Unübersichtlichkeit der Epoche sein, in der wir leben. Auch dürfte eine Rolle spielen, dass Recherche und Materialsammlung, sei es zu einem bestimmten Jahr, einem Jahrhundert oder einer kulturgeschichtlichen Periode, dank digitaler Werkzeuge so viel einfacher geworden sind.

Das Panorama schließt seiner Natur nach den Blick in die Tiefe aus, und Zeitreisen der panoramischen Art sind immer Pauschalreisen, bei denen man zwar einen kompetenten Führer mitbucht, die aber eigene Erkundungen und Erfahrungen nicht ersetzen. Sie können allerdings Stoff und Anregungen bieten, um sich von dem jeweiligen Zeitalter selbst ein Bild zu machen oder, im Idealfall, ein Gefühl dafür zu entwickeln.

Deutschland um 1750: Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 480 Seiten, 25 Euro.

Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 480 Seiten, 25 Euro.

Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer betreibt seit einigen Jahren ein erfolgreiches Reiseunternehmen in diesem Sinne. Zunächst begab er sich in die Goethezeit ("Als Deutschland noch nicht Deutschland war," 2015), dann ging es in die Epoche Martin Luthers ("Als unser Deutsch erfunden wurde", 2016), und nun, nach einem persönlich geprägten, dem technisch-medialen Fortschritt gewidmeten Ausflug in die jüngere Vergangenheit ( "Die Verwandlung der Dinge", 2018), entführt er uns in die Ära Johann Sebastian Bachs.

Etwas unglücklich gewählt ist dafür der Titel "Als die Musik in Deutschland spielte": Erstens spielte sie damals selbstverständlich genauso vernehmbar in Italien, Frankreich und England, und zweitens war das aus Fürstentümern bestehende "Deutschland" auch schon vorher, zu Zeiten von Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und den Bach-Vorfahren, eine klingende Landschaft und ein Nährboden musikalischer Kreativität.

Der Autor ist kein Freund von Aristokratie und Klerus, er prangert soziale Missstände an

Im Vorwort erfährt man, dass der Autor die Formulierung mit "nationaler Selbstironie" verstanden wissen will, doch im Titel suggeriert sie ein Bild, das zu dem regen Austausch, der im 17. und 18. Jahrhundert unter den europäischen Musikern herrschte, so gar nicht passt.

Es geht aber in diesem Buch nicht eigentlich um Musik, sondern vielmehr um die politischen, ökonomischen und lebensweltlichen Bedingungen, unter denen zu Lebzeiten des bekanntesten Mitglieds der Bach-Familie (dessen Ruhm ja erst viel später in überirdische Höhen wuchs) in deutschen Landen komponiert und musiziert wurde. Wie schon im Falle Goethes und Luthers, so hat Bruno Preisendörfer sich auch hier eine prägende Gestalt der von ihm besichtigten Epoche zum Schutzpatron erkoren, ohne sich jedoch auf dessen Werk und Wirken intensiv einzulassen oder gar Kennerschaft vorzuspiegeln. Er nennt Bach zwar seinen "Lieblingskomponisten", verhehlt aber nicht, dass er mit der Musik des Thomaskantors eher oberflächlich vertraut ist. Sonst würde er auch kaum das längst widerlegte Klischee aufwärmen, dass die zu Bachs Zeiten eingesetzten Orchester uns Heutigen "enttäuschend dünn besetzt" vorkämen, "ebenso die Chöre mit nicht einmal zwei Dutzend Sängern".

Wenn Bruno Preisendörfer seine persönlichen Ansichten und Vorlieben mitteilt, ist das manchmal, wie bei jedem Reiseführer, mit einem Körnchen Salz zu genießen. Unschlagbar sind jedoch der Fleiß und die Findigkeit, mit denen er den lesenden Epochentouristen Zutritt verschafft zu verborgenen Ecken und Winkeln, ihnen Räume aufschließt, von deren Existenz sie nichts ahnten, und ihnen die Rückseiten jener Fassaden zeigt, die sie bis dahin für das Ganze halten mochten. Herrschaftsverhältnisse und Trinkgewohnheiten, Kleiderordnung und Perückenpflege, Hofzeremoniell und Volksbildung, Kochrezepte und Kriegshandwerk, Folter und Gerichtsbarkeit, Ehe und Prostitution, Porzellanherstellung und Gartenbau, Medizin und Bestattungswesen: Zu gefühlt jedwedem Segment des historischen Alltags schüttet Preisendörfer ein Füllhorn an zeitgenössischen Quellen und Zitaten aus.

Und hier natürlich zu den Themen, die speziell den Musikerberuf betreffen, wie Bewerbungs-Odysseen und Zahlungs-Usancen, Gottesdienstpraxis und Notenschreiberei. Im Fokus stehen die drei Großen: Bach, oft mit Obrigkeiten im Clinch und von Familiensorgen geplagt, Händel, zur Völlerei neigend und bald nach England abgängig, und Telemann, Blumenliebhaber und immer etwas unterschätzt.

Aber auch kleinere Meister wie Quantz und die Graun-Brüder werden kurz belichtet. Es gibt Exkurse über Galanterie und Pietismus, über Leibniz als Urahn des Computers und Albrecht Haller als Leichensezierer, über den Theaterstreit zwischen Gottsched und der Neuberin, und es gibt gleich zu Beginn den Versuch einer Begriffserklärung für das "Barock", zwischen dessen vielfältigen Erscheinungsformen der Autor, wie er bekennt, keine rechte Verbindung findet. Und so stellt er denn auch zwischen den zahllosen Facetten seines Epochenporträts zwar jede Menge Verknüpfungen her, aber keinen Zusammenhang. Alles hat den gleichen Stellenwert, die Abschnitte sind kurz, es wird vor- und zurückgesurft, gehupft und gesprungen, wie es der netzgewohnten Wahrnehmung entspricht.

Das hat den Vorteil, dass man portionsweise immer nur das lesen kann, was einen gerade interessiert. Dass Preisendörfer kein Freund von Aristokratie und Klerus ist und den Blick häufig auf soziale Missstände richtet, gehört zu seinem Profil; dass er Texte zu Bachs geistlichen Kantaten unter dem Niveau eines Kulturwissenschaftlers verspottet ("Leidenskitsch", "schmalzige Ergebenheit"), sei ihm nachgesehen.

Was man aber in seinem Buch vermisst hat, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ "Der Glocken bebendes Getön" in der Kantate BWV 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: "In Bachs Vertonung ... simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch 'Mark und Adern' geht." Hier öffnet sich, durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf "diese Stelle" ist schon die ganze Lektüre wert.

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